Valtònyc

EuGH 03.03.2020 717/18

I Kunstwerk und Sachverhalt

José Miguel Arenas Beltrán (* 18. Dezember 1993 in Sa Pobla, Mallorca), besser bekannt unter seinem Künstlernamen Valtònyc, ist ein spanischer Rapper. Erstmals für Kontroverse sorgte er im August 2012 mit dem Lied Circo Balear, in dem er den damaligen Präsidenten der Autonomen Gemeinschaft Balearen Jorge Campos Asensi und einige Regierungsmitglieder attackierte und sang Jorge Campos verdient eine Atombombe. Ebenso kontrovers aufgenommen wurde der im selben Jahr erschienene Song La TuerKa Rap, in dem er rappte: Wenn ich die ETA hochleben lasse, sperren sie mich ein, wenn du ein ...sohn wie Urdangarin bist, nicht. In einem anderen Lied rief er dazu auf, die Sommerresidenz der Königsfamilie in Palma de Mallorca mit Waffengewalt zu besetzen. Und er sang auch Strophen wie Der Bourbonenkönig und seine Aktivitäten – man weiss nicht, ob er Elefanten jagt oder bei Prostituierten weilt. Insgesamt wurden 16 Lieder mit strafrechtlicher Relevanz festgestellt, die langjährige Ermittlungen zur Folge hatten.Valtònyc brachte zu seiner Verteidigung vor, dass die Sprache des Rap extrem, provozierend, allegorisch und symbolisch sei und erklärte: Der Staat geht nur gegen linke Gruppen und Individuen vor. Kritik von links werde unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit begraben – Hasstiraden von rechts hingegen würden nicht geahndet.

Siehe mehr im Wikipedia-Eintrag, in dem erwähnt ist, dass

  • ihn das Sondergericht Audiencia Nacional am 22. Februar 2017 schließlich zu einer dreieinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilte (zwei Jahre davon wegen Verleumdung und schwerer Majestätsbeleidigung, ein Jahr wegen Verherrlichung von Terrorismus sowie ein halbes Jahr wegen Drohung gegen Campos),
  • er unmittelbar vor Haftantritt  im Mai 2018 nach Belgien flüchtete,
  • woraufhin die spanischen Behörden einen Europäischen Haftbefehl anstrebten und
  • es zu ablehnenden Entscheidungen eines Gerichtes in Gent und des Europäischen Gerichts EuG (im Wege einer Vorabentscheidung) kam.

II Schlagworte und Leitsätze

Nationales Recht:

  • Strafrecht - Verleumdung - Hassrede - Meinungsfreiheit - Rap

Europarecht:

  • Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 2 Abs. 2 – Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls – Wegfall der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit – Voraussetzungen – Straftat, die im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist – Änderung des Strafrechts des Ausstellungsmitgliedstaats zwischen dem Zeitpunkt der Handlungen und dem Zeitpunkt der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls – Bei der Prüfung der Schwelle des Höchstmaßes der Strafe von mindestens drei Jahren heranzuziehende Fassung des Gesetzes“
  • Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, ob die Straftat, wegen der ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt worden ist, im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist, das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats in der für die Handlungen, die zu der Rechtssache geführt haben, in deren Rahmen der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, geltenden Fassung heranzuziehen hat.

III Parteien

Jose Miguel Arenas Beltrán (bekannt als Valtonyc) als Angeklagter und Verurteilter im nationalen Verfahren in Spanien und als X genannter Adressat des im Rahmen der Vollstreckung eines von der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) gegen X erlassenen Europäischen Haftbefehls in Belgien im Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH.

IV Nationales Verfahren

11    Am 21. Februar 2017 verurteilte die Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) X u. a. wegen Handlungen, die zwischen dem 1. Januar 2012 und dem 31. Dezember 2013 begangen worden waren und gemäß Art. 578 des Strafgesetzbuchs in seiner zu dieser Zeit geltenden Fassung Straftaten der Verherrlichung des Terrorismus und der Erniedrigung seiner Opfer darstellten, zur maximalen Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Das Urteil wurde rechtskräftig, da das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) das dagegen eingelegte Rechtsmittel mit Urteil vom 15. Februar 2018 zurückgewiesen hat.

Exkurs zur Entscheidung des Tribunal Supremo vom 13.02.2018

Auf die Entscheidung des Tribunal Supremo wird im Detail in der EuGH-Entscheidung nicht eingegangen, da dort nur die Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls Gegenstand ist.

Wegen der "beiderseitigen Strafbarkeit", die (gemäß der Entscheidung des EuGH) hier zu überprüfen ist und dazu führen kann, dass die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats (also in Belgien) darstellen, ist zunächst auf die in Wikipedia nicht genannte, aber auf der Website Global Freedom of Expression der Columbia University (mit 1800 Fällen zur Meinungsfreiheit aus 130 Ländern) wiedergegebene Entscheidung des Tribunal Supremo zu verweisen.

Aus dieser Entscheidung sind zwei Umstände hervorzuheben:

1   Der Verweis auf die EGMR-Entscheidung Hogefeld gegen Deutschland:

Das Tribunal Supremo führt ua aus, dass (Zitat):

der Gerichtshof wie der National Audience Court auf den EGMR-Fall  Hogefeld gegen Deutschland verwies, in dem anerkannt wurde, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden kann, wenn es um die öffentliche Aufforderung zur Begehung terroristischer Handlungen geht.

und zieht bei näherer Betrachtung bei Beurteilung eines spanische Rappers eine Entscheidung über eine ehemalige RAF-Terroristin heran:

Mit der Entscheidung des EGMR vom 20.01.2000, 35402/97, Hogefeld gegen Deutschland wurde eine Individualbeschwerde der wegen mehrfachen Mordes verurteilten ehemaligen RAF-Terroristin gegen das Verbot eines Interviews über die RAF während des Strafverfahrens als unzulässig zurückgewiesen. In der Begründung des EGMR wird ausdrücklich auf die persönliche Vergangenheit der Beschwerdeführerin als RAF-Terroristin abgestellt (Zitat),

The Court notes that those statements alone do not necessarily have to be understood as a promotion of terrorist activities. They must, however, be seen in the light of the applicant's personal history, who was most probably one of the main representatives of an organisation, the RAF, which had waged a murderous fight against the public order of the Federal Republic of Germany for more then twenty years.

wenn ausgeführt wird, dass ihre Statements nicht notwendigerweise als Aufruf zu terrorisitischen Aktivitäten verstanden werden müssen, aber im Licht ihrer persönlichen Vergangenheit gesehen werden müssen, zumal sie höchstzwarscheinlich zu den Hauptrepräsentanten der RAF zählte, die einen mörderischen Kampf gegen die öffentliche Ordnung der BRD über mehr als 20 Jahre wagte.

Hierauf wird im Favorartis Kommentar zurückgekommen.

2   Verleumdung und Beleidigung der Krone

Das Tribunal Supremo führt ua weiters aus, dass (Zitat):

bei der Beurteilung des Straftatbestands der „Verleumdung und Beleidigung der Krone“ gemäß Artikel 169 Absatz 2 sich der Gerichtshof auf die Entscheidung 19/1987 des Verfassungsgerichtshofs bezog, in der festgestellt worden war, dass „der König eine Persönlichkeit des öffentlichen Rechts und eine Institution ist, die einen besonderen Schutz rechtfertigt“

das Gericht anerkannte, dass die Meinungsfreiheit zwar der politischen Meinungsäußerung besonderen Schutz bietet, dies sich jedoch nicht auf die Kritik am Privatleben politischer Persönlichkeiten erstreckt.

der Gerichtshof die Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofs STC 107/1988 erwähnte, die festgestellt hatte, dass Beleidigungen, die „in der Öffentlichkeit nicht geäußert werden müssen“, nicht durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt werden können.

Hierauf wird bei den Ausführungen zur beiderseitigen Strafbarkeit zurückgekommen.

V Fragestellung des Europarechts

12    Nachdem X aus Spanien nach Belgien ausgereist war, erließ die Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof) am 25. Mai 2018 gegen ihn einen Europäischen Haftbefehl und am 27. Juni 2018 einen ergänzenden Europäischen Haftbefehl zum Zweck der Vollstreckung der im Urteil vom 21. Februar 2017 wegen der Straftat des „Terrorismus“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich des Rahmenbeschlusses 2002/584 verhängten Strafe.

13   Um festzustellen, ob die in Rede stehende Straftat nach spanischem Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht war, so dass gemäß Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine Übergabe ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zu erfolgen hat, zog die Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen, afdeling Gent (Gericht Erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent, Belgien), als vollstreckende Justizbehörde Art. 578 des Strafgesetzbuchs in der Fassung heran, die zum Zeitpunkt der den Gegenstand des Ausgangsverfahrens bildenden Handlungen galt. Im Anschluss an die Feststellung, dass keine beiderseitige Strafbarkeit vorliege, lehnte sie mit Beschluss vom 17. September 2018 die Vollstreckung des ergänzenden Europäischen Haftbefehls vom 27. Juni 2018 ab.

14    Der Hof van beroep te Gent (Appellationshof Gent, Belgien), bei dem die vom Procureur-generaal (Generalprokurator, Belgien) gegen diesen Beschluss eingelegte Berufung anhängig ist, hat Zweifel, welche Fassung des Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats heranzuziehen ist, um zu klären, ob die in Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Voraussetzung einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren erfüllt ist. Er führt aus, in Anbetracht der Fassung von Art. 578 des Strafgesetzbuchs, die zum Zeitpunkt der den Gegenstand des Ausgangsverfahrens bildenden Handlungen gegolten habe, habe die Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen, afdeling Gent (Gericht Erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent), die beiderseitige Strafbarkeit prüfen und die Vollstreckung des ergänzenden Europäischen Haftbefehls ablehnen dürfen, da Art. 578 in dieser Fassung eine Freiheitsstrafe von höchstens zwei Jahren vorgesehen habe. Sollte dieser Artikel jedoch in der Fassung heranzuziehen sein, die zum Zeitpunkt der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls gegolten habe, hätte die Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen, afdeling Gent (Gericht Erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent), die beiderseitige Strafbarkeit nicht prüfen und daher die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht ablehnen dürfen, da Art. 578 in dieser neuen Fassung nunmehr eine Freiheitsstrafe von höchstens drei Jahren vorsehe.

Fazit (Anmerkung des Websitebetreibers):

Das Gericht erster Instanz Ostflandern prüfte die beiderseitige Strafbarkeit, stellte fest dass sie nicht bestehe und lehnte die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehles ab. Die Frage, ob dieses Gericht die beiderseitige Strafbarkeit prüfen und die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ablehnen durfte, hing laut dem Appellationsgerichtshof Gent davon ab, ob die Strafdrohung von höchstens zwei Jahren zum Zeitpunkt der  Straftaten (2012 bis 2013) oder von höchstens drei Jahren (aufgrund einer Gestzesänderung 2015) zum Zeitpunkt der Erlassung des  Europäischen Haftbefehls (am  27. Juni 2018) relevant ist.

VI Rechtliche Beurteilung des Höchstgerichtes

1    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1).

2    Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines von der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) gegen X erlassenen Europäischen Haftbefehls in Belgien. ...

15    Unter diesen Umständen hat der Hof van beroep te Gent (Appellationshof Gent) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.    Lässt Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wie er durch das Gesetz vom 19. Dezember 2003 über den Europäischen Haftbefehl (Moniteur belge vom 22. Dezember 2003, S. 60075) in das belgische Recht umgesetzt wurde, es zu, dass bei der Prüfung durch den Vollstreckungsmitgliedstaat, ob das darin vorgeschriebene Höchststrafmaß von mindestens drei Jahren vorliegt, das Strafgesetz zugrunde gelegt wird, das im Ausstellungsmitgliedstaat zum Zeitpunkt der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls gilt?

2.    Lässt Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wie er durch das Gesetz vom 19. Dezember 2003 in das belgische Recht umgesetzt wurde, es zu, dass bei der Prüfung durch den Vollstreckungsmitgliedstaat, ob das darin vorgeschriebene Höchststrafmaß von mindestens drei Jahren vorliegt, ein zum Zeitpunkt der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls geltendes Strafgesetz zugrunde gelegt wird, mit dem das Strafmaß im Vergleich zu dem Strafgesetz, das im Ausstellungsmitgliedstaat zum Zeitpunkt der Taten galt, verschärft wurde?

19    Aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 geht allerdings nicht hervor, welche Fassung des genannten Rechts von der vollstreckenden Justizbehörde bei der Prüfung, ob die in dieser Vorschrift vorgesehene Voraussetzung des Höchstmaßes der Strafe von mindestens drei Jahren vorliegt, heranzuziehen ist, wenn sich das genannte Recht zwischen dem Zeitpunkt der Handlungen, die zu der Rechtssache geführt haben, in deren Rahmen der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, und dem Zeitpunkt seiner Ausstellung oder Vollstreckung geändert hat. ...

21    Unter diesen Umständen ist bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 19. Dezember 2013, Koushkaki, C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 34, vom 16. November 2016, Hemming u. a., C‑316/15, EU:C:2016:879, Rn. 27, und vom 25. Januar 2017, Vilkas, C‑640/15, EU:C:2017:39, Rn. 30). ...

23    Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 ergibt, kann bei der hier vorliegenden Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Verurteilung für das Mindestmaß von vier Monaten nur auf die Strafe abgestellt werden, die nach dem für die abgeurteilten Handlungen geltenden Recht des Ausstellungsmitgliedstaats konkret verhängt wurde, und nicht auf die Strafe, die nach dem zum Zeitpunkt der Ausstellung des Haftbefehls geltenden Recht dieses Mitgliedstaats hätte verhängt werden können.

24    Für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gemäß Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann nichts anderes gelten. ...

36    Würde das von der ausstellenden Justizbehörde gemäß dem Formblatt im Anhang des Rahmenbeschlusses 2002/584 anzugebende und von der vollstreckenden Justizbehörde bei der Prüfung der Frage, ob ein Europäischer Haftbefehl gemäß Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit vollstreckt werden muss, heranzuziehende Recht des Ausstellungsmitgliedstaats nicht für die Handlungen gelten, die zu der Rechtssache geführt haben, in deren Rahmen der Haftbefehl erlassen wurde, könnte die vollstreckende Justizbehörde bei der Bestimmung der maßgeblichen Fassung dieses Rechts auf Schwierigkeiten stoßen, falls es zwischen dem Zeitpunkt der Handlungen und dem Zeitpunkt, zu dem die vollstreckende Justizbehörde über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu entscheiden hat, geändert wurde.

37    Folglich muss sich die vollstreckende Justizbehörde bei der Anwendung von Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auf die im Europäischen Haftbefehl selbst enthaltenen Informationen über die Dauer der Strafe, gemäß dem Formblatt im Anhang des Rahmenbeschlusses, stützen können. Da nach Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ein Europäischer Haftbefehl als Eilsache erledigt und vollstreckt wird, muss die Prüfung des Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats, die diese Behörde im Rahmen der Anwendung von Art. 2 Abs. 2 vorzunehmen hat, nämlich notwendigerweise rasch erfolgen und daher auf der Grundlage der im Europäischen Haftbefehl selbst verfügbaren Informationen vorgenommen werden. Würde von dieser Behörde verlangt, dass sie für die Zwecke der Vollstreckung des Haftbefehls prüft, ob das für die fraglichen Handlungen geltende Recht des Ausstellungsmitgliedstaats nach dem Handlungszeitpunkt geändert wurde, würdedies gegen den in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angegebenen Zweck des Rahmenbeschlusses 2002/584 verstoßen.

38    Eine andere Auslegung würde überdies in Anbetracht der Schwierigkeiten, auf die die vollstreckende Justizbehörde bei der Bestimmung der verschiedenen möglicherweise maßgeblichen Fassungen dieses Rechts stoßen könnte, zu Unsicherheiten führen und daher dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderlaufen. Zudem liefe es den Erfordernissen der sich aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit ergebenden Vorhersehbarkeit zuwider, wenn die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls von dem zum Zeitpunkt seiner Ausstellung anwendbaren Recht abhängig gemacht würde. ...

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, ob die Straftat, wegen der ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt worden ist, im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist, das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats in der für die Handlungen, die zu der Rechtssache geführt haben, in deren Rahmen der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, geltenden Fassung heranzuziehen hat.

VII Keine beiderseitige Strafbarkeit

Nach der Entscheidung des EuGH prüfte das Appellationsgericht Gent die beiderseitige Strafbarkeit inhaltlich. Da Majestätsbeleidigung auch in Belgien seit 1847 auch in Belgien ein Straftatbestand war, wurde das belgische Verfassungsgericht angerufen, welches entschied, dass der Tatbestand der Majestätsbeleidigung sowohl gegen die belgische Verfassung als auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße, da er nicht mit dem Recht auf Meinungsfreiheit vereinbar sei  (siehe Bericht der Plattform BBD vom 20.11.2021)  Dies führte in der Causa Valtonyc letzlich zur endgültigen Entscheidung des Appellationsgericht von Gent: Der mallorquinische Rapper, der von Spanien gesucht wird, weil seine Texte als Majestätsbeleidigung, Terrorismus und Drohung eingestuft wurden, darf nicht ausgeliefert werden (siehe Bericht der Plattform BBD vom 28.12.2021).

VIII Favorartis Kommentar

⇒ Kein Favorartis in Spanien, das etwa am Delikt der Majestätsbeleidigung festhält oder dessen Gerichte problematische Vergleiche (etwa durch die Gleichsetzung eines Rappers mit einer RAF-Terroristin) anstellen, ⇒ Favorartis jedoch in Belgien, das im Rahmen der inhaltlichen Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit sehr genau vorging und sowohl den EuGH als auch den nationalen Verfassungsgerichtshof anrief, bevor die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt wurde,

IX Hinweise zu dieser Webseite

  1. Die Entscheidung kann über die EUR-Lex Startseite (zB als PDF in deutscher Sprache bei Eingabe der Geschäftszahl) abgerufen werden. Der hier veröffentlichte Text folgt dieser Version, da laut Beschluß 2011/833/EU die in EUR-Lex veröffentlichten Rechtsdokumente weiterverwendet werden dürfen.
  2. Die in den Abschnitten IV bis VI vor Beginn von Absätzen eingefügten Zahlen entsprechen den Randnummern im Urteilstext des EuGH
  3. Die Entscheidung kann auch über die Website des Gerichtshofes (bei Eingabe der ECLI-Zitierung) abgerufen werden.
  4. Das angeführten Zitate aus Wikipedia,  der Website Global Freedom of Expression der Columbia University und der Plattform BBD  (mit Quellenangaben) erfolgen im angeführten Umfang zur Erläuterung des Inhaltes der Webseite.
  5. Personenbezogene Daten, die über die Veröffentlichung der Entscheidung hinausgehen, ergeben sich aus den zitierten Medienberichten.

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