I Kunstwerk
Das Abendmahl (italienisch: Il Cenacolo bzw. L’Ultima Cena, französisch: La Cène) des italienischen Malers Leonardo da Vinci ist eines der berühmtesten Wandgemälde der Welt. Das in der Seccotechnik ausgeführte Werk wurde in den Jahren 1494 bis 1497 im Auftrag des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza geschaffen. Es schmückt die Nordwand des Refektoriums (Speisesaal) des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand und gilt als Höhepunkt in Leonardos malerischem Schaffen. Das Bild misst 422 cm × 904 cm und zeigt Jesus mit den zwölf Aposteln. Das Bild Leonardos gilt als Meilenstein der Renaissance, denn es nahm wegen seiner korrekt wiedergegebenen perspektivischen Tiefe bahnbrechenden Einfluss auf die Malerei des Abendlandes.
Im deutschen Wikipedia findet sich der Eintrag, dass das französische Modehaus Girbaud Ende April 2005 in Frankreich mit einer Anzeige warb, die nur in formaler Hinsicht das Abendmahl zitierte. Zu sehen waren zwölf weibliche Mannequins, von denen eine offensichtlich Christus darstellte. Zwei andere umarmten einen Mann mit nacktem Oberkörper in Jeans. Die katholische Kirche reichte wegen Blasphemie eine Klage ein. Am 10. März gab Richter Jean-Claude Magendie dieser statt und forderte Girbaud gegen Androhung einer Geldstrafe auf, in ganz Frankreich die Plakate binnen drei Tagen entfernen zu lassen.
Da dem Gerichtsverfahren im französischen Wikipedia eine eigene Seite gewidmet. ist, wird dieses in die Sammlung der Entscheidungen zum Recht der Kunst aufgenommen.
Siehe Wikipedia (deutsch) und speziell zum Gerichtsverfahren Wikipedia (französisch).
II Schlagworte
Privates Recht – Freiheit der Meinungsäußerung Art 10 EMRK – Kunstfreiheit - Werbeplakat
III Parteien
Antragsteller: Vereinigung Croyances et libertés (Glauben und Freiheiten)
Beklagte: GIP, Gesellschaft nach italienischem Recht mit dem Sitz in Mailand; Vereinigung Ligue française pour la défense des droits de l'homme et du citoyen, Paris; Gesellschaft Air Paris, Gesellschaft JC Decaux publicité lumineuse, Neuilly-sur-Seine.
IV Sachverhalt
La Cène ist ein Werbeplakat von Marithé und François Girbaud, das zwölf junge Frauen und einen Mann (mit dem Rücken) in ähnlichen Positionen wie im Gemälde von Leonardo da Vinci darstellt, aber die Apostel durch Frauen ersetzt. Dieses Plakat löste eine Kontroverse aus, nachdem von der französischen Bischofskonferenz ausgehend die Vereinigung Glauben und Freiheiten einen Prozess angestrengt hatte.
Andreas Mertin schildert im Magazin für Theologie und Ästhetik, Ausgabe 41/2006 unter dem Titel Bilderstreit und Kulturverlust, Über die Reizbarkeit des religiösen Gefühls am Beispiel von Leonardos Abendmahl, dass (Zitat):
die Fotokünstlerin Brigitte Niedermaier, von der das Bild stammt, das Thema des Abendmahls in der Genderthematik spezifiziert hat: Nicht dreizehn Männer versammeln sich um den Tisch, sondern zwölf Frauen und ein Mann. Diese Konstellation ist aber eine andere als bei dem Abendmahl von Horst Wackerbarth in der Werbung von Otto Kern. Nicht Christus wird als Mann dargestellt, sondern ein einzelner Jünger. Der Mann ist abweichend dargestellt: zwar sind alle(!) Models modisch gekleidet, aber der Mann trägt keine Kleider am Oberkörper und er wendet dem Betrachter den Rücken zu ...
Der nächste Blick, zeigt, dass nicht nur der Hintergrund fehlt, sondern dass das gesamte Mobiliar mit Ausnahme der Tischplatte und der Accessoires auf ihr "entfernt" wurden. Weder hat der Tisch Beine noch sitzen die dreizehn Protagonisten auf Stühlen ...
Unterhalb der Gürtellinie, dh unter dem Tisch kehren sich die Realitätsverhältnisse dramatisch um. Nichts ist mehr so, wie es scheint. Der genauere Blick auf diesen Teil des Bildes von Brigitte Niedermaier offenbart zahlreiche Anomalien. Wir zählen nach der Logik des Abendmahls 13 Teilnehmer, finden aber nur 17 oder 18 Beine. Und als ob das nicht genug wäre, hat eine der Frauen gleich drei Beine ..
Die Werbung der Modeschöpfer Girbaud (2005) ist auch im Auszug aus dem Vortrag von Jérome Cottin in der Tagung : „Autonomie und Ikonografie. Ein Blick auf 40 Jahre Kunst und Kirche“, 2-4 Dezember 2005, Schlösschen Schönburg, Evangelische Akademie, Hofgeismar unter dem Titel Zur Verteidigung verbotener Bilder. Am Beispiel einiger zeitgenössischer Neuinterpretationen von Leonardo da Vincis Abendmahl (auch dort mit weiteren Beispielen) beschrieben,
V Gang des Verfahrens
Die Gesellschaft GIP verliert den Prozess in erster Instanz und im Berufungsverfahren am 8. April 2005. Der Richter bezeichnet das Plakat als Beleidigung für Christen, eine Beleidigung, die seiner Ansicht nach noch durch die unpassende Darstellung der einzigen männlichen Figur in einer zweideutigen Pose verstärkt wird. Er ordnet an, dass das Plakat sofort entfernt wird. Die Anwältin der Gesellschaft, Laurence Garnier, prangert ein auf das Verbot der Meinungsfreiheit abzielendes Verfahren an.
Das Gericht sprach zugleich mit der Verurteilung ein Zwangsgeld von 100.000 Euro für einen Tag Verspätung ab dem 3. Tag nach der Zustellung" aus und fügte hinzu, dass die Beleidigung der Katholiken unverhältnismäßig zum angestrebten gewerbsmäßigen Zweck sei".
Die Gesellschaft leugnet die Beleidigungsabsicht: Es war nie die Absicht des Hauses, wen auch immer zu beleidigen.
Die Anwälte der katholischen Vereinigung, Rechtsanwalt Thierry Massis und Jean-Louis Thieriot, werfen den Schöpfern vor, eine sakrale Darstellung für kommerzielle Zwecke zu nützen und Werbung mit lasziven und anregenden Posen zu machen.
Die Liga für Menschenrechte hat sich als Nebenkläger für die Meinungsfreiheit eingesetzt.
VI Rechtliche Beurteilung des Höchstgerichtes
Am 14. November 2006 hob das Höchstgericht (Cour de Cassation) das Urteil des Cour d'appel Paris vom 8. April 2005 auf und stellte in der Hauptsache unter Abweisung der Klage der Vereinigung Croyances et libertés fest:
Es ist keine offensichtlich unerlaubte Störung, wenn Plakatwerbung mit einem Foto erfolgt, das sich nur als Parodie der Anordnung der Darstellung in La Cène präsentiert und das nicht zum Ziel hat, die Gläubigen der katholischen Religion zu beleidigen oder sie in der Achtung aufgrund ihrer Weltanschauung so zu treffen, dass damit eine Beleidigung, persönliche oder direkte Attacke auf eine Gruppe von Menschen wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit erreicht wird,
im Originaltext lautend wie folgt:
Ne constitue pas un trouble manifestement illicite l'affichage d'une photographie qui se présente comme la seule parodie de la forme donnée à la représentation de la Cène, qui n'a pas pour objectif d'outrager les fidèles de religion catholique ni de les atteindre dans leur considération en raison de leur obédience, de sorte qu'elle ne constitue pas l'injure, attaque personnelle et directe envers un groupe de personnes en raison de leur appartenance religieuse.
VII Reaktion und Kommentare
Reaktion von GIP
Am 08.12.2006 erfolgte eine Pressemitteilung von GIP, in der zunächst die Entscheidung der 1. Zivilkammer des obersten Pariser Berufungsgerichts Cour de Cassation mit ihrer Klarstellung zitiert wird ,dass
die Darstellung von Leonardo Da Vincis “Das letzte Abendmahl” weder katholische Gläubige empören wollte, noch zum Ziel hatte, ihren Gehorsam zu kritisieren und deshalb keine Beleidigung oder einen direkten Angriff einer religiös orientierten Gruppe darstellte,
und sodann bekanntgegeben wird:
Mittlerweile ist es nicht mehr unsere Priorität, diese Kampagne wiederzubeleben: unsere Ziele haben sich weiterentwickelt, genau wie unsere Botschaften. Seit dieser Kampagne haben wir andere Richtungen eingeschlagen und andere Hürden überwunden. Dennoch gibt uns dieses Gerichtsurteil Hoffnung für die Zukunft und für die Freiheit des Ausdrucks, die allen Künstlern gewährt werden sollte.
Kommentare in der Lehre
Armelle Fourlon und Boris Khalvadjian schildern inder Revue d’art contemporain Marges, Ausgabe 09 | 2009 Irresponsabilité de l’art unter dem Titel Art, liberté, responsabilité. Exposé juridique d’une affaire de concessions den Fall La Cène und die entscheidenenden Passagen der Cour de Cassation vom 14. November 2006 und bezeichnen die Entscheidung
als eine sehr motivierte Demonstration der Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit unter den verschiedenen Grundfreiheiten, deren Ausübung in Rede stand,
im Originaltext lautend wie folgt:
La décision est une démonstration très motivée de l’application du principe de proportionnalité entre les différentes libertés dont l’exercice était concerné
Roland Seim zeigt im Vortrag auf der IBKA-Tagung 2008 "Grundrechte im Schatten der Götter" im Oberanger Theater in München am 12.10.2008 unter dem Titel Kruzifix! Blasphemie in der Popkultur (Zitat):
anhand von einigen Beispielen aus den Bereichen Film, Satire, Kunst und sonstigen populärkulturellen Medien, was in Deutschland und anderen westlichen Demokratien als Blasphemie in strafrechtlichen Konflikt mit der Obrigkeit kam oder zu Protesten führte, und warum dies so war.
Es werden ua Werner Schroeters Verfilmung von Oskar Panizzas Liebeskonzil, aber auch Fälle aus den Bereichen der Satire, der Musik, des Comic und auch aus der Werbebranche geschildert. Zum Abendmahl-Motiv in einer Inszenierung der Fotografin Brigitte Niedermaier wird erwähnt, dass (Zitat):
es zunächst in dem von Berlusconi dominierten Mailand so großen Protest erregte, dass die Stadt es im Februar 2005 verbot, "weil es die Grundlagen des christlichen Glaubens berührt". Als besonders anstößig wurde empfunden, dass die "Christus"-Figur ebenso wie die "Apostel" weiblich sind, und die einzige männliche Figur einen nackten Rücken zeigt.
Favorartis Kommentar
⇒ Favor artis spät und für die Societé GIP möglicherweise zu spät, da sie nach dem erstinstanzlichen Urteil über das riesige Werbeplakat auf der Avenue Charles de Gaulle in Neuilly-sur-Seine (als dem einzigen Ort, an dem die Werbung auf einer riesigen Werbetafel angebracht war), eine 40 x 11 Meter große Plane vor die Werbung gespannt hatte und - jedenfalls laut Pressemitteilung vom 08.12.2006 - nach dem Erfolg (erst) vor der Cour de Cassation die Kampagne nicht mehr wiederbeleben wollte.
VIII Hinweise zu dieser Webseite
- Der Text der Entscheidung ist zum Teil der Veröffentlichung in Légifrance entnommen und übersetzt.
- Die angeführten Zitate aus Wkipedia (zum Kunstwerk und zum Gerichtsverfahren), aus der Pressemitteilung von GIP und den Essays, Aufsätzen oder Vorträgen von Mertin, Cottin, Fourlon, Khalvadjian und Seim (mit Quellenangaben) erfolgen im angeführten Umfang zur Erläuterung des Inhaltes der Webseite.
- Personenbezogene Daten, die über die Veröffentlichung der Entscheidung hinausgehen, ergeben sich aus dem Bekanntheitsgrad des Kunstwerks und den Blasphemievorwürfen zu dessen Bearbeitungen.