Der Sprayer von Zürich

EGMR (Kommission) 13.10.1983 N vs Switzerland 9870/82

I Kunstwerk

Sarah Levy leitet ihren Beitrag Die Dosenrevolution über den Graffiti-Pionier Harald Naegeli in der Reihe SPIEGEL Geschichte am 27.08.2013 wie folgt ein (Zitat):

Meistens tauchten die sonderbaren Gestalten nachts in den Straßen von Zürich auf: ein dürrer Mann, der um eine Häuserecke lugte. Ein Gesicht, das aus einer Lüftungsklappe starrte. Eine dünne Frau mit riesigen Brüsten, die in einem dunklen Hauseingang lauerte.

Schöpfer der eigenartigen Figuren war ein unbekannter Sprayer, der 1977 begonnen hatte, die Stadt im Schutze der Dunkelheit mit Zeichnungen aus seiner Sprühdose zu bevölkern. "Es war ein Protest gegen die Unwirtlichkeit der Städte, der Architektur", sagt der inzwischen 73-jährige heute. Für die Stadt Zürich war es damals jedoch nichts als Schmiererei. Graffiti waren in Europa noch weit weniger verbreitet als in den USA - entsprechend hielt sich die Begeisterung über die expressiven Wandbilder in Grenzen: Hunderte Anzeigen wegen Sachbeschädigung gingen bei der Zürcher Polizei ein. Sie setzte 3000 Franken Belohnung auf die Ergreifung des "Sprayers von Zürich" aus.

Ein Nachtwächter war es, dem es schließlich im Mai 1979 gelang, den Übeltäter auf frischer Tat an einer Hauswand zu ertappen. Im Handgemenge schaffte der Sprayer es zwar, sich dem Griff des Wachmanns zu entwinden, verlor aber seine Brille. Ein verhängnisvolles Missgeschick: Als er wenig später zurückkehrte, um nach ihr zu suchen, erwartete ihn bereits die Polizei. Das sprühende Phantom von Zürich war enttarnt - als der 39 Jahre alte Künstler Harald Naegeli.

Im deutschsprachigen Wikipedia wird fortgesetzt:

Harald Oskar Naegeli (* 4. Dezemberr 1939 in Zürich) ist ein Schweizer Künstler. Er wurde als Sprayer von Zürich Ende der 1970er-Jahre weltweit bekannt, da er mit seinen illegalen Wandzeichnungen den öffentlichen Raum Zürichs besprayte.

Naegeli stand 1981 vor einem Zürcher Gericht und wurde wegen wiederholter Sachbeschädigung mit einer hohen Geldstrafe und neun Monaten Haft bestraft – von einem Richter, der ein Exempel statuieren wollte, wie der WDR-Journalist Hubert Maessen im deutschen Radio vom Prozess berichtete. Der Vollstreckung des Urteils entzog Naegeli sich durch eine Flucht aus der Schweiz nach Deutschland. Es erging ein internationaler Haftbefehl und er wurde am 28. August 1983 verhaftet. Trotz der Intervention zahlreicher Künstler, Schriftsteller und Politiker und einer von Naegeli selbst eingereichten Beschwerde bei der Europäischen Menschenrechtskommission wurde er nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 24. April 1984 an sein Heimatland ausgeliefert. Nach sechs Monaten Gefängnisstrafe wurde Naegeli aus der Strafanstalt Wauwilermoos entlassen und zog nach Düsseldorf, wo er weiter sprayte.

Gegenstand dieser Webseite ist die abweisliche Entscheidung der Kommission vom 13.10.1983.

II Schlagworte

Keine Strafe ohne Gesetz Art 7 EMRK - Freiheit der Meinungsäußerung Art 10 EMRK - Graffiti - Straftat - Kunstfreiheit - Internationaler Haftbefehl - Haft

III Zusammenfassung der relevanten Fakten

Der Beschwerdeführer wurde von den Zürcher Gerichten in Abwesenheit zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, weil er eine Vielzahl von Gebäuden in der Stadt Zürich mit schwarzem Aerosolspray bemalt hatte: Das Urteil wurde gemäss Artikel 145 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Sachbeschädigung) gefällt. Der Beschwerdeführer macht vor der Kommission geltend, er habe keine Straftat begangen, da die fraglichen Gebäude keinen Schaden erlitten hätten. Er weist darauf hin, dass Spezialisten behauptet hätten, dass seine Arbeit von künstlerischem Wert sei.

IV Das Gesetz (Auszug)

1. Der Beschwerdeführer bringt vor, wegen Handlungen verurteilt worden zu sein, die nach schweizerischem Recht keine Straftat darstellten. Er beruft sich auf Artikel 7 Absatz 1 der Konvention, der wie folgt lautet:

„Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.“

Die Kommission erinnert daran, dass der Beschwerdeführer vom Berufungsgericht des Kantons Zürich gemäß Artikel 145 Absatz 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuches verurteilt wurde, der lautet: "Wer das Eigentum einer anderen Person beschädigt, zerstört oder unbrauchbar macht, wird im Falle einer Beschwerde mit Gefängnis oder Geldstrafe bestraft." Das Gericht vertrat die Auffassung, dass die Figuren, die der Beschwerdeführer gegen den Willen der Eigentümer mit Hilfe eines Aerosolsprays auf Wände einer anderen Person malte, eine Sachbeschädigung im Sinne der oben genannten Bestimmung des Schweizerischen Strafgesetzbuches darstellten.

Das Gericht wies das Vorbringen des Beschwerdeführers zurück, die Figuren werteten das Eigentum der anderen Person aufgrund ihres künstlerischen Wertes auf. Es ist nicht Aufgabe der Kommission, über den künstlerischen Wert der fraglichen Figuren zu entscheiden. Es genügt die Feststellung, dass der Beschwerdeführer wegen einer Handlung verurteilt und verurteilt wurde, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung eine Straftat nach kommunalem Recht darstellte. Die Kommission ist ferner der Auffassung, dass der Beschwerdeführer nicht dargetan habe, dass die Zürcher Gerichte die Grenzen einer vernünftigen Auslegung der einschlägigen Bestimmung des schweizerischen Strafgesetzbuchs überschritten hätten (...).

Die Prüfung dieser Beschwerde zeigt keine Verletzung der durch die Konvention und insbesondere durch die oben genannte Bestimmung garantierten Rechte und Freiheiten auf. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde im Sinne von Artikel 27 Absatz 2 der Konvention offensichtlich unbegründet ist.

2. Die Kommission beschloss, das Vorbringen des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit Artikel 10 der Konvention zu prüfen, der wie folgt lautet:

(1) Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.

(2) Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.

Die Kommission ist der Auffassung, dass im vorliegenden Fall die Frage, ob künstlerischer Ausdruck einen weitergehenden Schutz nach Artikel 10 genießt als jede andere Ausdrucksform, offen bleiben kann. Die Ausübung dieser Freiheit wurde im vorliegenden Fall durch Artikel 10 Absatz 2 eingeschränkt, weil die Verurteilung und das Strafmaß, gegen die sich der Beschwerdeführer wendet und die (beide) gesetzlich vorgeschrieben sind, eine Maßnahme waren, die in einer innerstaatlichen Gesellschaft zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer und zur Aufrechterhaltung der Ordnung erforderlich sind.

Bei der Behandlung eines Konflikts zwischen der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und der Achtung des Eigentums anderer haben die Zürcher Gerichte im vorliegenden Fall keine Maßnahme ergriffen, die zu den oben genannten Zielen unverhältnismäßig war. Dementsprechend ist die Rüge auch unter diesem Gesichtspunkt offensichtlich unbegründet.

V Kommentare in den Medien und in der Lehre

25 Jahre nach der Verhaftung Naegeli's 1983 erscheint in der Berner Zeitung am 11.10.2008 ein von Guido Kalberer geführtes Interview mit Harald Naegeli unter dem Ttitel Harald Naegeli - Ich spraye wieder. Rückblickend führt der Interviewte ua aus (Zitat):

Mit meinen Strassenzeichnungen und Graffiti habe ich Geschichte gemacht. Wie kein zweiter europäischer Künstler habe ich - im Widerspruch zur bürgerlichen Ordnung - Kunst wertfrei und autonom in die Öffentlichkeit gestellt. Der sanfte, weiche Strich erzeugte auf dem brutalen Beton eine zauberhafte Poesie.

Ich bin stolz darauf, dass meine Strassenzeichnungen die Herolde der späteren Jugendaufstände waren. Mit der bürgerlichen Kunst, die sich in der informellen Zeitsprache ausdrückte, konnten sich die Jugendlichen damals nicht identifizieren. Meine Arbeiten aber boten ihnen ein Beispiel dafür, wie man gegen die bürgerliche Ordnung protestieren kann.

In den 70er-Jahren gab es eine weltweite antiautoritäre Bewegung: in Berlin, in Woodstock, in Zürich. Dieser Aufstand, diese Revolte - es war keine Revolution -, hat sich bei mir potenziert und verdichtet und sich in meiner Kunst als überindividuelle Aussage manifestiert. Es war eine allgemeine gesellschaftliche Stimmung des Widerstands gegen eine erstarrte bürgerliche Ordnung.

Vanessa Rüegger führt die gegenständliche Kommissionentscheidung in der Habilitationsschrift an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel mit dem Titel Kunstfreiheit, 2020, erschienen im Helbing Lichtenhahn Verlag; Basel als Beleg dafür an, dass (Zitat S 63)

die Rechtsprechung des EGMR zu Fragen der künstlerischen Freiheit über Jahrzehnte relativ knapp begründet blieb. So liessen die Kommission und der Gerichtshof beispielsweise offen, ob der künstlerische Ausdruck einen umfangreicheren Schutz geniesst als jede andere Form der Meinungsäusserung. Die Kommission griff dies im Entscheid zu Harald Naegelis Sprayereien (...) als Frage auf, liess sie aber unbeantwortet [mit Verweis auf FN 218].

Rüegger führt allerdings weiter aus, dass (Zitat, S 63)

sich indessen in den einzelnen Urteilen abzeichnete, dass der EGMR für die Beurteilung der Kunst eine kunstspezifische Haltung einzunehmen bereit war. So berücksichtigte das Gericht neben dem Publikationsmedium und seinem Verbreitungsgrad auch die Besonderheiten der künstlerischen Kommunikationsform, ihre mögliche Fiktionalität, Mehrdeutigkeit und Persönlichkeitsnähe [mit Verweis auf FN 219 und Anführung ua der Entscheidung Apokalypse]. Besonders ausführlich befasste sich der EGMR mit dem Schutz der Kunst im Urteil Alekhina and others v Russia [mit Verweis auf FN 220 und Anführung der Entschediung Pussy Riot), in dem es Grundsätze für die Beurteilung von Kunst festlegt.

VI Verfilmung

2021 erscheint der Dokumentarfilm der Hamburger Filmemacherin Nathalie David  mit dem Titel Harald Naegeli - Der Sprayer von Zürich. Laut Presseberichten gelingt ihr "ein exzellentes Künstlerportraiit" bzw. "ein eindrückliches Portrait eines Mannes, der seinen Überzeugungen treu bleibt und sich nicht verbiegen lässt."  Der Trailer dazu liefert bereits einen Vorgeschmack.

VII Hinweise zu dieser Webseite

  1. Im gegenständlichen Fall hat der EGMR grmäß Art 44 Abs 3 EMRK die endgültige Entscheidung zur Aufnahme in die Datenbank HUDOC zur Verfügung gestellt, wo sie (bei Eingabe des Case Title oder der Application Number) zB als Dokument in englischer Sprache abgerufen werden kann..
  2. Der hier zur Verfügung gestellte Text folgt der englischsprachigen Fassung aus der Datenbank HUDOC, da Reproduktionen (und damit auch Übersetzungen) zu Informations- und Bildungszwecken erstellt werden können.
  3. Die angeführten Zitate aus SPIEGEL Geschichte, aus dem deutschsprachigen Wkipedia, aus der Berner Zeitung, aus Rüegger's Habilitationsschrift (mit Quellenangaben) und aus der Website zum Film erfolgen im angeführten Umfang zur Erläuterung des Inhaltes der Webseite.
  4. Personenbezogene Daten,die über die Veröffentlichung der Entscheidung hinausgehen, ergeben sich aus dem Bekanntheitsgrad der angeführten Personen.

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