I Rundfunklizenz

Das Bild des Rundfunkempfängers Loewe OE 333 zeigt, dass die ersten Anfänge des Rundfunks in die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts führen. Es sollte jedoch bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts dauern, bis privater Rundfunk als Ausfluss des Grundrechtes der Meinungsfreiheit zugelassen wurde.
Auf dieser Website zeigen einzelne Entscheidungen zum Recht der Kunst (etwa Stille Tage in Clichy oder Contergan-Film) und vor allem die zahlreichen Literatur-Adaptionen durch (auch im Hörfunk gesendete) Hörspiele und die zahlreichen (auch im Fernsehen gesendeten) Filmbeispiele zum Recht in der Kunst die Verbindung zu Rundfunk (als Oberbegriff für Hörfunk und Fernsehen) auf.
In diesem Kontext steht vor allem die hier vorgestellte Entscheidung des EGMR Informationsverein Lentia ua gegen Österreich vom 24.11.1993, 13914/88, die als Wegbereiter für die Zulassung von Privatrundfunklizenzen in Österreich gilt.
II Schlagworte
Freiheit der Meinungsäußerung Art 10 EMRK, Freiheit der Vermittlung von Ideen und Informationen - Bewilligung von Lizenzen für Rundfunkunternehmen - vom Gesetz vorgesehene Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen zur Aufrechterhaltung eines öffentlich-rechtliches Rundfunkmonopols.
III Parteien
A Informationsverein Lentia
8 Der Erstbeschwerdeführer, ein Verein von Wohnungseigentümern und Mietern einer Wohnsiedlung in Linz, die 458 Wohnungen und 30 Geschäftslokale umfasst, plante die Kommunikation zwischen seinen Mitgliedern durch die Einrichtung eines internen Kabelrundfunknetzes zu verbessern. Die Programme sollten sich auf Fragen von beiderseitigem Interesse im Zusammenhang mit den Rechten der Mitglieder beschränken. Am 9. Juni 1978 beantragte der Erstbeschwerdeführer für das Kabelnetz eine Betriebsgenehmigung nach dem Fernmeldegesetz.
B Jörg Haider
12 Von 1987 bis 1989 arbeitete der Zweitbeschwerdeführer mit anderen Personen ein Projekt zur Gründung eines privaten Radiosenders in Kärnten aus. Er gab die Idee daraufhin auf, nachdem ihm eine Studie gezeigt hatte, dass er nach dem anwendbaren Recht, wie es vom Verfassungsgerichtshof ausgelegt wird, nicht in der Lage sein würde, die erforderliche Lizenz zu erhalten. Infolgedessen hat er sich nie um eine beworben.
C Arbeitsgemeinschaft Offenes Radio (AGORA)
13 Der Drittbeschwerdeführer, ein österreichischer Verein und Mitglied der Fédération européenne des radios libres (FERL - European Federation of Free Radios), plante die Einrichtung eines Radiosenders in Südkärnten. 1988 beantragte AGORA eine Lizenz.
D Wilhelm Weber
15 Der Viertbeschwerdeführer ist Anteilseigner einer italienischen Gesellschaft, die ein kommerzielles Radio betreibt, das nach Österreich sendet, und er möchte dieselbe Tätigkeit auch in Österreich ausüben. Angesichts der geltenden Rechtsvorschriften beschloss er jedoch, bei den zuständigen Behörden keinen Antrag zu stellen.
E Radio Melody GmbH
16 Der Fünftbeschwerdeführer ist eine GmbH nach österreichischem Recht. Am 8. November 1988 beantragte sie bei der Linzer Landespost- und Telekommunikationszentrale auf, ihr eine Frequenz zuzuweisen, damit sie einen lokalen Radiosender betreiben könne, den sie in Salzburg starten wolle.
IV Sachverhalt und nationales Verfahren
A Informationsverein Lentia
9 Am 9. Juni 1978 beantragte der Erstbeschwerdeführer für das Kabelnetz eine Betriebsgenehmigung nach dem Fernmeldegesetz (siehe unten, Randnr 17). Da die Linzer Landespost- und Telekommunikationsdirektion nicht innerhalb der in Artikel 73 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes vorgesehenen Sechsmonatsfrist geantwortet hatte, beantragte der Verein die Betriebsgenehmigung bei der Generaldirektion für die Post- und Telegraphenverwaltung, die dem Bundesministerium für Verkehr angegliedert ist.
Die Generaldirektion für die Post- und Telegraphenverwaltung lehnte den Antrag am 23. November 1979 ab. Art.1 Abs 2 des Verfassungsgesetzes, das die Unabhängigkeit des Rundfunks garantiere, habe dem Bundesgesetzgeber die ausschließliche Befugnis zur Regelung dieser Tätigkeit übertragen; dieser habe diese Befugnis nur einmal ausgeübt, indem er das Gesetz über das Bundesgesetz über die Aufgaben und die Einrichtung des Österreichischen Rundfunks erlassen habe, siehe unten, Randnr 20. Daraus folgt, dass keine andere Person eine solche Lizenz beantragen konnte, da jeder weitere Antrag keine Rechtsgrundlage hätte. Außerdem habe es keinen Verstoß gegen Artikel 10 der Konvention gegeben, da der Gesetzgeber - in seiner Eigenschaft als Verfassungsgesetzgeber - lediglich von seiner Befugnis Gebrauch gemacht habe, ein Lizenzsystem nach Art 10 Absatz 1 Satz 3 einzurichten.
10 Daraufhin beschwerte sich der Erstbeschwerdeführer beim Verfassungsgerichtshof über einen Verstoß gegen Artikel 10; das Gericht erließ am 16. Dezember 1983 ein Urteil. Es vertrat die Auffassung, dass die Freiheit zur Errichtung und den Betrieb von Rundfunk- und Fernsehanlagen den Befugnissen unterliege, die dem Gesetzgeber nach Art 10 Abs 1 und Abs 2 (Gesetzesvorbehalt) eingeräumt würden. Folglich könne eine Verwaltungsentscheidung nur dann gegen diese Bestimmung verstoßen, wenn sie keine Rechtsgrundlage habe oder ihre Rechtsgrundlage verfassungswidrig sei oder erneut willkürlich (in denkunmöglicher Weise) angewandt worden sei. Darüber hinaus hatte das Verfassungsgesetz ein System eingeführt, das alle Tätigkeiten dieser Art von der Erteilung Ermächtigung durch den Bundesgesetzgeber abhängig machte. Dieses System sollte Objektivität und Meinungsvielfalt gewährleisten und wäre wirkungslos, wenn es jedem möglich wäre, die erforderliche Genehmigung zu erhalten. Zum jetzigen Zeitpunkt war das Rundfunkrecht auf den Österreichischen Rundfunk (ORF) beschränkt, da zusätzlich zu dem für diese Organisation geltenden Gesetz keine Ausführungsgesetze erlassen worden waren.
Daraufhin wies der Verfassungsgerichthof die Beschwerde zurück und überwies sie an den Verwaltungsgerichthof.
11 Am 10. September 1986 hat der Verwaltungsgerichthof im Wesentlichen die vom Verfassungsgerichtshof angeführten Gründe angenommen und seinerseits die Beschwerde des Vereines zurückgewiesen.
C Arbeitsgemeinschaft Offenes Radio (AGORA)
14 1988 beantragte AGORA eine Lizenz. Dieser Antrag wurde im Instanzenweg abgewiesen, der VfGH lehnte die Behandlung einer dagegen an ihn gerichteten Beschwerde im Hinblick auf seine Rechtsprechung (siehe oben Pkt A) ab.
E Radio Melody GmbH
16 Der Antrag wurde im Instanzenweg abgewiesen, eine entsprechende Beschwerde vom Verfassungsgerichtshof abgelehnt.
V Nationales Recht
A Das Fernmeldegesetz vom 13. Juli 1949
17 Nach dem Fernmeldegesetz vom 13. Juli 1949
- steht das Recht, Fernmeldeanlagen zu errichten und zu betreiben ausschließlich dem Bund zu (Art 2 Abs 1).
- Der Bund übt das in Abs 1 bezeichnete Recht durch Fernmeldebehörden aus. Letztere können jedoch die Befugnis zur Errichtung und zum Betrieb einzelner Fernmeldeanlagen natürlichen oder juristischen Personen erteilen (Art. 3 Abs. 1).
- Unter bestimmten Umständen können Fernmeldeanlagen ohne Bewilligung errichtet und betrieben werden, ua die Einrichtung einer Anlage innerhalb der Grenzen eines Grundstückes (Artikel 5).
B Die Verordnung des Bundesministeriums für Verkehr und Elektrizitätswirtschaft über Privatfernmeldeanlagen
18 Die Verordnung vom 18. September 1961 über private Telekommunikationsanlagen legt ua die Bedingungen für die Errichtung und den Betrieb privater Telekommunikationsanlagen fest. Nach der Rechtsprechung kann sie nicht die Rechtsgrundlage für die Erteilung von Lizenzen bilden.
C Das Verfassungsgesetz vom 10. Juli 1974 zur Gewährleistung der Unabhängigkeit des Rundfunks (Bundesverfassungsgesetz über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks)
19. Nach Art. 1 des Verfassungsgesetzes vom 10. Juli 1974, der die Unabhängigkeit des Rundfunks garantiert, ...
- (2) Die näheren Bestimmungen für den Rundfunk und seine Organisation sind bundesgesetzlich festzulegen. Ein solches Bundesgesetz hat insbesondere Bestimmungen zu enthalten, die die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Berücksichtigung der Meinungsvielfalt, die Ausgewogenheit der Programmesowie die Unabhängigkeit der Personen und Organe, die mit der Besorgung der im Abs. 1 genannten Aufgaben betraut sind, gewährleisten.
- (3) Rundfunk gemäß Abs 1 ist eine öffentliche Aufgabe.
D Das Bundesgesetz über die Aufgaben und die Einrichtung des Österreichischen Rundfunks
20 Mit dem Gesetz vom 10. Juli 1974 über die über die Aufgaben und die Einrichtung des Österreichischen Rundfunks wurde der Österreichische Rundfunk mit dem Status einer autonomen Körperschaft des öffentlichen Rechts gegründet.
Er hat für die umfassende Information der Allgemeinheit über alle wichtigen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Fragen zu sorgen; zu diesem Zweck hat er unter Beachtung der Erfordernisse der Objektivität und Meinungsvielfalt Nachrichten und Reportagen und für die Allgemeinheit wesentlichen Kommentare, Standpunkte und kritische Stellungnahmen unter angemessener Berücksichtigung der Vielfalt der im öffentlichen Leben vertretenen Meinungen auszustrahlen (§ 2) und dies über mindestens zwei Fernsehsender und drei Radiosender zu tun, von denen einer ein Regionalsender sein muss (§ 3). Ein Teil seiner Sendezeit ist an die im Nationalrat vertretenen politischen Parteien und an Interessenverbände zu vergeben.
Über die Verletzung von Bestimmungen des genannten Gesetzes, soweit dafür nicht eine andere Verwaltungsbehörde oder ein Gericht zuständig ist (§§ 25 und 27), entscheidet die Kommission zur Wahrung des Rundfunkgesetzes. Sie setzt sich aus siebzehn unabhängigen Mitgliedern zusammen, darunter neun Richter, die vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der Bundesregierung für vier Jahre ernannt werden.…
F Nachfolgende Entwicklungen
22 Am 1. Januar 1994 tritt ein Gesetz über regionale Radiosender in Kraft (Regionalradiogesetz, Bundesgesetzblatt Nr. 1993/506). Es ermöglicht den Behörden unter bestimmten Voraussetzungen, Privatpersonen oder privaten Unternehmen Lizenzen für die Errichtung und den Betrieb regionaler Radiosender zu erteilen.
VI Verfahren vor der Kommission
23 Die Beschwerdeführer stellten bei der Kommission an verschiedenen Terminen zwischen dem 16. April 1987 und dem 20. August 1990 Anträge (Anmeldungen Nr. 13914/88, 15041/89, 15717/89,15779/89 und 17207/90). Die Unmöglichkeit, eine Betriebsgenehmigung zu erhalten, sei ein ungerechtfertigter Eingriff in ihr Recht auf Information und verstoße gegen Art 10 der Konvention. Der Erst- und Drittbeschwerdeführer beanstandeten auch eine Diskriminierung, die gegen Artikel 14 in Verbindung mit Art 10 verstoße. Die Fünftbeschwerdeführerin hat zudem einen Verstoß gegen Art 6 Abs. 6 geltend gemacht, da sie den Rechtsstreit nicht vor ein "Gericht" im Sinne dieser Bestimmung bringen konnte.
24. Die Kommission ordnete die Verbindung der Anträge am 13. Juli 1990 und 14. Januar 1992 an. Am 15. Januar 1992 hielt sie die Rügen der Artikel 10 und 14 für zulässig und jene in Bezug auf Artikel 6 für unzulässig. In ihrem Bericht vom 9. September 1992 (nach Artikel 31) äußerte sie sich wie folgt:
a) dass gegen Artikel 10 verstoßen worden ist (einstimmig für den ersten Antragsteller und mit vierzehn zu eins Stimmen für die anderen);
b) dass es nicht erforderlich war, den Fall auch unter dem Gesichtspunkt von Artikel 14 zu prüfen (einstimmig für den ersten Antragsteller und mit vierzehn zu einer Stimme für den dritten Antragsteller). ...
VII Rechtliche Beurteilung des Höchstgerichtes
I Behauptete Verletzung von Art. 10
26 Die Beschwerdeführer beanstandeten, dass sie jeweils nicht in der Lage gewesen seien, einen Radiosender oder, im Fall des Informationsvereins Lentia, einen Fernsehsender einzurichten, da dieses Recht nach österreichischem Recht auf den Österreichischen Rundfunk beschränkt gewesen sei. Dies stelle ein Monopol dar, das mit Artikel 10 unvereinbar sei, der folgendes vorsieht:
1 Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, dass die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.
2 Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.
Die Regierung bestritt diese Behauptung, während die Kommission sie im Wesentlichen akzeptierte.
27 Das Gericht weist darauf hin, dass die in Rede stehenden Beschränkungen einen "Eingriff" in die Rechte der Beschwerdeführer auf Ausübung ihrer Freiheit, Informationen und Ideen zu vermitteln, darstellen; dies war in der Tat eine Übereinstimmung zwischen den Verfahrensbeteiligten. Es stellte sich daher nur die Frage, ob ein solcher Eingriff gerechtfertigt war.
In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass Herr Haider und Herr Weber nie eine Rundfunklizenz beantragt haben (siehe oben, Randnrn. 12 und 15); vor der Kommission räumte die Regierung ein, dass diese beiden Beschwerdeführer als Opfer angesehen werden könnten, und die Regierung hat vor dem Gerichtshof nicht gegenteilig argumentiert.
28 Nach Ansicht der Regierung finde sich in Absatz 1, der ihrer Ansicht nach autonom auszulegen ist, eine ausreichende Grundlage für den streitigen Eingriff. Hilfsweise machte sie geltend, die Grundlage für den Eingriff finde sich auch unter den in Absatz 2 genannten Voraussetzungen.
29 Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Ziel und Zweck des Art 10 Abs 1 Satz 3 und dessen Anwendungsbereich im Kontext des Artikels in seiner Gesamtheit und insbesondere in Bezug auf die Voraussetzungen des Absatzes 2 zu sehen ist, dem auch Lizenzmaßnahmen unterliegen (vgl. Urteil Groppera Radio AG u. a./Schweiz vom 28. März 1990, Serie A Nr. 173, S. 24, Abs. 61, und die Autronic AG v. Urteil der Schweiz vom 22. Mai 1990, Serie A Nr. 178, S. 24, Abs. 52). Es ist daher zu prüfen, ob die fraglichen Vorschriften mit beiden Bestimmungen vereinbar sind.
A Artikel 10 Absatz 1 Satz 3
30 Nach Ansicht der Regierung erlaube das am Ende von Absatz 1 genannte Lizenzsystem den Staaten nicht nur, die technischen Aspekte audiovisueller Tätigkeiten zu regeln, sondern auch ihren Platz und ihre Rolle in der modernen Gesellschaft zu bestimmen. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des Satzes 3 des Absatz 1 (Art 10 Abs 1), der weniger restriktiv sei als der Wortlaut von Absatz 2 und Art 11 und damit einen umfassenderen Eingriff der Behörden in die fragliche Freiheit zulasse. Gleichzeitig lasse es den Staaten bei der Festlegung ihrer Medienpolitik und ihrer Umsetzung einen größeren Ermessensspielraum. Dies könne sogar in Form eines Monopols des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erfolgen, insbesondere in Fällen, in denen dies, wie in Österreich, das einzige Mittel des Staates war, um die Objektivität und Unparteilichkeit der Nachrichten, die ausgewogene Berichterstattung über alle Meinungsnuancen und die Unabhängigkeit der für die Programme verantwortlichen Personen und Einrichtungen zu gewährleisten.
31 Nach Ansicht der Beschwerdeführer spiegelt die in Österreich geltende Regelung und insbesondere das Monopol des Österreichischen Rundfunks im Wesentlichen den Wunsch der Behörden wider, die politische Kontrolle der audiovisuellen Industrie auf Kosten des Pluralismus und der künstlerischen Freiheit zu sichern. Durch die Beseitigung jeglichen Wettbewerbs dienten die Vorschriften zusätzlich dazu, die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Österreichischen Rundfunks auf Kosten eines schwerwiegenden Eingriffs in die unternehmerische Freiheit zu schützen. Kurz gesagt, die Regelung stimmt mit Absatz 1 Satz 3 nicht überein.
32 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, soll mit dieser Bestimmung klargestellt werden, dass es den Staaten gestattet ist, die Art und Weise, wie der Rundfunk in ihrem Hoheitsgebiet insbesondere in den technischen Aspekten organisiert ist, durch ein Lizenzsystem zu regeln (vgl. das oben genannte Urteil Groppera Radio AG u. a., Serie A Nr. 173, S. 24, Ziffer 61). Technische Aspekte sind unbestreitbar wichtig, aber die Erteilung oder Verweigerung einer Lizenz kann auch von anderen Erwägungen abhängig gemacht werden, darunter die Art und die Ziele einer geplanten Rundfunkstation, ihre potentielle Zielgruppe auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene, die Rechte und Bedürfnisse eines bestimmten Publikums und die Verpflichtungen, die sich aus internationalen Rechtsvorschriften ergeben.
Dies kann zu Eingriffen führen, deren Ziele nach Absatz 1 Satz 3 legitim sind, auch wenn sie keinem der in Absatz 2 genannten Ziele entsprechen. Die Vereinbarkeit solcher Eingriffe mit der Konvention ist jedoch im Licht der anderen Anforderungen von Absatz 2 zu beurteilen.
33 Das in Österreich eingerichtete Monopolsystem kann durch die den Behörden übertragenen Kontrollbefugnisse über die Medien zur Qualität und Ausgewogenheit der Programme beitragen. Unter den Umständen des vorliegenden Falles steht es daher im Einklang mit dem dritten Satz von Absatz 1. Es bleibt jedoch zu prüfen, ob es auch die einschlägigen Bedingungen von Absatz 2 erfüllt.
B Artikel 10 Absatz 2
34 Die beanstandeten Eingriffe waren, und dies wird von keinem der Verfahrensbeteiligten bestritten, "gesetzlich vorgeschrieben". Ihr Ziel hat der Gerichtshof bereits als legitim erachtet (vgl. oben, Randnrn. 32-33). Andererseits stellt sich ein Problem im Zusammenhang mit der Frage, ob die Eingriffe "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" seien.
35 Die Vertragsstaaten verfügen bei der Beurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffs über einen Beurteilungsspielraum, doch geht dieser Spielraum Hand in Hand mit der europäischen Aufsicht, deren Umfang je nach den Umständen variieren wird. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen ein Eingriff in die Ausübung der in Art 10 Abs 1 garantierten Rechte und Freiheiten vorliegt, muss die Überwachung wegen der - vom Gerichtshof häufig hervorgehobenen - Bedeutung der fraglichen Rechte streng sein. Die Notwendigkeit einer Beschränkung muss überzeugend festgestellt werden (vgl. u. a. das Urteil der Autronic AG, oben angeführt, Serie A Nr. 178, S. 26-27, Ziffer 61).
36 Die Regierung wies in erster Linie auf die politische Dimension der Tätigkeiten der audiovisuellen Medien hin, die sich in Österreich in den Zielen widerspiegelt, die für diese Medien gemäß Art 1 Abs 2 des Bundesverfassungsgesetz über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks festgelegt sind, nämlich die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt, die ausgewogene Programmplanung und die Unabhängigkeit der für die Programme verantwortlichen Personen und Einrichtungen zu gewährleisten (vgl. oben, Randnr. 20). Nach Ansicht der Regierung ermöglichte nur das auf dem Monopol des Österreichischen Rundfunks beruhende System den Behörden, die Einhaltung dieser Anforderungen sicherzustellen. Deshalb sehen die Gesetzgebung und die Charta des Österreichischen Rundfunks die Unabhängigkeit der Programmgestaltung, die Freiheit der Journalisten und die ausgewogene Vertretung politischer Parteien und gesellschaftlicher Gruppen in den Leitungsorganen vor.
Mit seiner Entscheidung für die Beibehaltung des derzeitigen Systems habe der Staat jedenfalls lediglich innerhalb seines Ermessensspielraums gehandelt, der seit dem Beitritt zur Konvention unverändert geblieben sei; nur wenige Vertragsstaaten hatten damals andere Systeme. Angesichts der Vielfalt der Strukturen, die jetzt in diesem Bereich bestehen, konnte nicht ernsthaft behauptet werden, dass in der Zwischenzeit ein echtes europäisches Modell entstanden ist.
37 Die Beschwerdeführer monierten, dass zum Schutz der öffentlichen Meinung vor Manipulationen ein öffentliches Monopol in der audiovisuellen Industrie keineswegs erforderlich sei, da es dann ebenso notwendig wäre, ein öffentliches Monopol für die Presse einzurichten. Im Gegenteil, echte Fortschritte bei der Erreichung der Meinungsvielfalt und Objektivität können nur durch die Bereitstellung einer Vielzahl von Stationen und Programmen erreicht werden. In Wirklichkeit versuchten die österreichischen Behörden, ihre politische Kontrolle über den Rundfunk zu sichern.
38 Der Gerichtshof hat mehrfach die grundlegende Rolle der Meinungsfreiheit für eine demokratischen Gesellschaft hervorgehoben, vor allem soweit sie - durch die Presse - der Verbreitung von Information und Ideen von allgemeinem Interesse, auf deren Empfang die Öffentlichkeit überdies ein Recht hat, dient. (vgl. zB mutatis mutandis, Observer and Guardian/Vereinigtes Königreich, Urteil des Vereinigten Königreichs vom 26. November 1991, Reihe A Nr. 216 , S. 29-30, Ziff. 59). Ein solches Unterfangen kann nur dann erfolgreich sein, wenn es auf dem Prinzip der Pluralität, dessen Garant der Staat ist, basiert. Dies gilt besonders für die audiovisuellen Medien, deren Programme oft sehr weiträumig verbreitet werden.
39 Von allen Mitteln zur Sicherung der Einhaltung legitimer rundfunkpolitischer Zielsetzungen ist die Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols jene, die der individuellen Meinungsäußerungsfreiheit die größtmögliche Beschränkung auferlegt, nämlich die völlige Unmöglichkeit der Rundfunkveranstaltung auf andere Weise als durch den nationalen Veranstalter. Der weitreichende Charakter solcher Beschränkungen bedeutet, dass sie nur als gerechtfertigt angesehen werden können, wenn sie einem dringenden Bedürfnis entsprechen
Aufgrund des technischen Fortschritts der letzten Jahrzehnte kann die Rechtfertigung dieser Beschränkungen heute nicht mehr in Erwägungen hinsichtlich der Anzahl der verfügbaren Frequenzen und Kanäle gefunden werden; die Regierung hat dies akzeptiert. Zweitens haben die Argumente im vorliegenden Fall einen großen Teil ihrer Bedeutung verloren, da ausländische Programme in Österreich vermehrt empfangen werden. … Schließlich und vor allem kann nicht argumentiert werden, dass es keine gleichwertigen, weniger restriktiven Lösungen gäbe; es genügt als Beispiel die Praxis bestimmter Länder anzuführen, die entweder Lizenzen unter bestimmten Bedingungen variablen Inhalts ausstellen oder Formen der privaten Beteiligung an den Tätigkeiten der nationalen Gesellschaft vorsehen.
40 Die Regierung hat schließlich ein wirtschaftliches Argument vorgebracht, nämlich dass der österreichische Markt zu klein sei, um eine ausreichende Anzahl von Rundfunkstationen aufrecht zu erhalten und die Entstehung neuer Gruppen und die Bildung von "privaten Monopolen" zu vermeiden.
41 Nach Ansicht der Beschwerdeführer sei dies ein Vorwand für eine Politik, die durch die Ausschaltung jeglichen Wettbewerbs vor allem die Werbeeinnahmen des Österreichischen Rundfunks auf Kosten des Grundsatzes des freien Unternehmertums garantieren wolle.
42 Der Gerichtshof ist von den Argumenten der Regierung nicht überzeugt. Ihre Behauptungen werden durch die Erfahrungen verschiedener europäischer Staaten von vergleichbarer Größe widerlegt, in denen ein Nebeneinander von privaten und öffentlichen Stationen besteht - nach gesetzlichen Regelungen, die von Staat zu Staat verschieden sind und von bestimmten Maßnahmen begleitet werden, die die Entstehung privater Monopole verhindern sollen. Daran zeigt sich, dass die dargelegten Befürchtungen grundlos sind.
43 Kurzum, wie die Kommission ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die in Rede stehenden Eingriffe in keinem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel standen und daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht erforderlich waren. Es liegt daher ein Verstoß gegen Artikel 10 vor. …
AUS DIESEN GRÜNDEN IST DAS GERICHT EINSTIMMIG
1. der Ansicht, dass gegen Artikel 10 verstoßen wurde; ...
VIII Favorartis Kommentar
Die hier vorgestellte Entscheidung des EGMR Informationsverein Lentia ua gegen Österreich vom 24.11.1993, 13914/88, ist auch ursächlich dafür, dass dem Verein Culturcentrum Wolkenstein im Dezember 1997 die Zulassung zur Veranstaltung eines lokalen Hörfunkprogrammes für das Versorgungsgebiet "Raum Liezen" erteilt wurde und das freie Radio Freequenns seit 01.04.1999 ein 24-Stunden- Hörfunkvollprogramm im Ennstal (siehe die dort dargestellte Versorgungswirkung der drei Frequenzen) sendet.
Hinweise zu dieser Webseite
- Im gegenständlichen Fall hat der EGMR grmäß Art 44 Abs 3 EMRK die endgültige Entscheidung zur Aufnahme in die Datenbank HUDOC zur Verfügung gestellt, wo sie (bei Eingabe des Case Title oder der Application Number) zB als Dokument in englischer Sprache abgerufen werden kann..
- Der hier zur Verfügung gestellte Text folgt der englischsprachigen Fassung aus der Datenbank HUDOC, da Reproduktionen (und damit auch Übersetzungen) zu Informations- und Bildungszwecken erstellt werden können.
- Die in den Abschnitten I und III bis VIII vor Beginn von Absätzen (nicht durchgängig) eingefügten Zahlen 9 bis 57 entsprechen den Randnummern im Urteilstext des EGMR.
- Personenbezogene Daten, die über die Veröffentlichung der Entscheidung hinausgehen, ergeben sich nicht.