Little Red Schoolbook

EGMR 07.12.1976 Handyside vs United Kingdom 5493/72

I Kunstwerk

9   Der Beschwerdeführer, Herr Richard Handyside, ist Inhaber des Verlags Stage 1 in London, den er 1968 eröffnet hat. Er hat ua das Das kleine rote Schulbuch (im Folgenden: Schulbuch) veröffentlicht, dessen Originalausgabe Gegenstand des vorliegenden Verfahrens war und dessen überarbeitete Ausgabe am 15. November 1971 erschien.

11  Die britischen Rechte an dem Schulbuch, das von Søren Hansen und Jesper Jensen, zwei dänischen Autoren, verfasst worden war, waren vom Beschwerdeführer  im September 1970 erworben worden. Das Buch wurde erstmals 1969 in Dänemark und später, nach Übersetzung und mit einigen Anpassungen, in Belgien, Finnland, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Griechenland, Island, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden und der Schweiz sowie in mehreren außereuropäischen Ländern veröffentlicht. Außerdem zirkulierte es frei in Österreich und Luxemburg.

20   Die englischsprachige Originalausgabe des Buches, die dreißig Pence pro Exemplar kostete, hatte insgesamt 208 Seiten. Sie enthielt eine Einleitung mit der Überschrift Alle Erwachsenen sind Papiertiger, eine Einführung in die britische Ausgabe und Kapitel zu folgenden Themen: Bildung, Lernen, Lehrer, Schüler und das System. Das Kapitel über Schüler enthielt einen sechsundzwanzigseitigen Abschnitt über Sex, mit folgenden Unterabschnitten: Masturbation, Orgasmus, Geschlechtsverkehr und Petting, Verhütungsmittel, feuchte Träume, Menstruation, Kinderschänder oder unanständige alte Männer, Pornographie, Impotenz, Homosexualität, Normal und abnormal, Erfahre mehr, Geschlechtskrankheiten, Abtreibung, legale und illegale Abtreibung, Denk daran, Methoden der Abtreibung, Adressen für Hilfe und Beratung in sexuellen Angelegenheiten. In der Einleitung heißt es: Dieses Buch soll ein Nachschlagewerk sein. Die Idee ist nicht, es auf einmal durchzulesen, sondern das Inhaltsverzeichnis zu verwenden, um die Dinge zu finden und zu lesen, an denen Du interessiert bist oder über die Du mehr wissen möchtest. Selbst wenn man an einer besonders fortschrittlichen Schule ist, solltest Du im Buch viele Ideen finden, um die Dinge zu verbessern.

In Österreich wurde eine (spätere) deutschsprachige Ausgabe unter dem Titel Das kleine rote SchülerInnenbuch von der Aktion Kritischer Schülerinnen und Schüler 2003 herausgegeben; die 81 Seiten dieser Ausgabe ist als Memento im Internetarchiv abrufbar. Im Vorwort zur Auflage 2003 heißt es ua (Zitat)

Das kleine rote schülerbuch hat ende der 60er-jahre und zu beginn der 70er-jahre sehr viel aufsehen erregt. Es kritisiert in einfachen worten die schule und die gesellschaft sehr deutlich und diese kritik haben viele erwachsene nicht vertragen. Am meisten aufsehen erregten die passagen über sex bzw. drogen. Diese haben wir jedoch ausgelassen, da es heutzutage viele gute bücher und broschüren zu beiden themen gibt. Als ersatz haben wir am ende des buches eine kleine literaturliste zu den themen sex bzw. drogen angefertigt.

Siehe mehr in den Wikipedia-Einträgen das kleine rote schülerbuch, The Little Red Schoolbook und Handyside v United Kingdom.

II Schlagworte und Leitsatz

Freiheit der Meinungsäußerung Art 10 EMRK - Obszöne Veröffentlichungen - Kunstfreiheit   - Beschlagnahme und Einziehung -  Zensur.- Schulbuch

49   Das Recht der freien Meinungsäußerung stellt einen der Grundpfeiler einer "demokratischen Gesellschaft" dar, eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Entfaltung eines jeden Einzelnen. Vorbehaltlich der Bestimmung des Art. 10 Abs.2 gilt dieses Recht nicht nur für die günstig aufgenommenen oder als unschädlich oder unwichtig angesehenen „Informationen“ oder „Ideen“, sondern auch für die, welche den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen.

III Parteien

Herr Richard Handyside, Inhaber des Verlags Stage 1 in London, als Verleger des Werkes  Das kleine rote Schulbuch, als Angeklagter in den innerstaatlichen Strafverfahren im Vereinigten Königreich und als Beschwerdeführer beim EGMR.

IV Sachverhalt

12   Nachdem der Beschwerdeführer die Übersetzung des Buches ins Englische veranlasst hatte, bereitete er ... eine Ausgabe für das Vereinigte Königreich vor. Zuvor hatte er eine Vielzahl von Personen über … die beabsichtigte Veröffentlichung im Vereinigten Königreich am 1. April 1971 konsultiert. …

14  Nach Eingang einer Reihe von Beschwerden ersuchte der Generalstaatsanwalt am 30. März 1971 die Metropolitan Police um Ermittlungen. Infolgedessen wurde am 31. März 1971 ein erfolgreicher Antrag auf Durchsuchung der von Stage 1  in London belegten Räumlichkeiten gemäß Abschnitt 3 des Obscene Publications Acts 1959/1964  gestellt. Der Durchsuchungsbefehl wurde in Abwesenheit des Antragstellers nach dem im englischen Recht vorgesehenen Verfahren ausgestellt … Er wurde am selben Tag ausgeführt und 1.069 Exemplare des Buches wurden zusammen mit Flugblättern, Plakaten, Showcards und Korrespondenz im Zusammenhang mit seiner Veröffentlichung und seinem Verkauf vorläufig beschlagnahmt.

15   Auf Anraten seiner Anwälte verteilte der Beschwerdeführer in den folgenden Tagen weiterhin Exemplare des Buches. Nachdem der Generalstaatsanwalt Kenntnis davon erhalten hatte, dass nach der Durchsuchung weitere Exemplare in die Räumlichkeiten von Stage 1 gebracht worden waren, wurden am 1. April 1971 ... weitere erfolgreiche Anträge … auf Durchsuchung gestellt. Später an diesem Tag wurden insgesamt 139 Exemplare des Buches in den Räumlichkeiten von Stage 1 beschlagnahmt, zusammen mit der Korrespondenz darüber und der Matrix, mit der das Buch gedruckt wurde. Etwa 18.800 Exemplare einer Gesamtauflage von 20.000 Exemplaren wurden vermisst und beispielsweise an Schulen verkauft, die Bestellungen aufgegeben hatten.

V Innerstaatliches Verfahren

16   Am 8. April 1971 erließ ein Magistrates' Court gemäß Section 2 (1) des Obscene Publications Act 1959 in der durch Section 1 (1) des Obscene Publications Act 1964 geänderten Fassung zwei Vorladungen gegen den Beschwerdeführer wegen folgender Straftaten:

a) am 31. März 1971 Besitz von 1.069 obszönen Büchern mit dem Titel "Das kleine rote Schulbuch" zur Veröffentlichung gegen Gewinn;

b) am 1. April 1971 Besitz von 139 obszönen Büchern mit dem Titel "Das kleine rote Schulbuch" zur Veröffentlichung gegen Gewinn.

Die Ladung wurde dem Beschwerdeführer am selben Tag zugestellt. Daraufhin stellte er den Vertrieb des Buches ein und wies die Buchhandlungen entsprechend an, jedoch waren zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 17.000 Exemplare im Umlauf.

17 … Am 1. Juli 1971, nachdem Zeugen sowohl zur Anklage als auch zur Verteidigung geladen worden waren, wurde der Beschwerdeführer beider Straftaten für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von £ 25 und zur Zahlung von … Kosten verurteilt. Gleichzeitig erließ das Gericht eine Verfügung für die Vernichtung der Bücher durch die Polizei.

18   Am 10. Juli 1971 gingen bei der Metropolitan Police Berufungsschriften gegen beide Verurteilungen von den Anwälten des Beschwerdeführers ein … Das Berufungsuteil erging am 29. Oktober 1971: Die erstinstanzliche Entscheidung wurde bestätigt und der Beschwerdeführer wurde zur Tragung weiterer Kosten … verurteilt. Das beschlagnahmte Material - wie oben beschrieben - wurde dann vernichtet. ...

32   In der Beurteilung des Abzielens auf Verderbtheit und Verführung, betrachtete das Gericht die Atmosphäre des Buches als Ganzes und stellte fest, dass das Gefühl einer gewissen Verantwortung für die Gemeinschaft und für sich selbst der Ausprägung der eigenen Meinung völlig untergeordnet, wenn nicht sogar völlig verschwunden war. Als Indiz dafür, was seiner Ansicht nach ein Abzielen auf Verderbtheit und Verführung bewirkte, zitierte ... das Gericht ... Folgendes:

A    Passage (S 77) mit der Überschrift Sei du selbst :

Vielleicht rauchst du Gras oder gehst mit deinem Freund oder deiner Freundin ins Bett - und sagst es deinen Eltern oder Lehrern nicht, entweder weil du es nicht wagst oder nur, weil du es geheim halten willst.

Schäme dich nicht oder fühle dich nicht schuldig dafür, Dinge zu tun, die du wirklich tun willst und für richtig hältst, nur weil deine Eltern oder Lehrer sie missbilligen könnten. Viele dieser Dinge werden dir im späteren Leben wichtiger sein als die Dinge, die 'gutgeheißen' werden. …

B    Passage (S 97 bis 98) mit der Überschrift Geschlechtsverkehr und Petting unter der Hauptüberschrift Sex:

Dies vor so vielen Kindern jungen Alters vorzutragen, die - wie das Gericht annimmt  - das Buch lesen würden, ohne jegliches Abstellen zur Zurückhaltung oder Unweisheit verwirklichte das Abzielen auf Verderbtheit und Verführung.

C     Passage (S 103 bis 105) mit der Überschrift Pornographie, insbesondere folgende:

Pornos sind ein harmloses Vergnügen, wenn sie nicht ernst genommen und für das wahre Leben gehalten werden. Jeder, der es mit der Realität verwechselt, wird sehr enttäuscht sein.

Aber es ist durchaus möglich, dass Du einige gute Ideen bekommst und vielleicht etwas findest, das interessant aussieht und Du noch nie zuvor ausprobiert hast. ...

VI Rechtliche Beurteilung des Höchstgerichtes

36   In seiner Beschwerde, die am 13. April 1972 bei der Kommission eingereicht wurde, rügte Herr Handyside, dass die Anklage im Vereinigten Königreich gegen ihn und das Schulbuch sein Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit nach Artikel 9 (Art. 9) der Konvention und sein Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 (Art. 10) der Konvention verletze …

I. ZUR ANGEBLICHEN VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 (ARTIKEL 10) DER KONVENTION

42    Der Beschwerdeführer macht geltend, Opfer einer Verletzung von Art. 10 (Art. 10) des Übereinkommens zu sein, der bestimmt:

(1) Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.

(2) Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.

43    Die verschiedenen beanstandeten Maßnahmen - die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers, die Beschlagnahme und anschließende Einziehung und Vernichtung der Matrize und von Hunderten von Exemplaren des Schulbuchs - waren zweifelsfrei - und die Regierung hat dies nicht bestritten - Eingriffe der Behörden in die Ausübung seiner Meinungsfreiheit, die durch Absatz 1 (Art. 10-1) des oben zitierten Textes garantiert wird. Solche Eingriffe stellen eine Verletzung von Artikel 10 dar, wenn sie nicht unter eine der in Absatz 2 vorgesehenen Ausnahmen (Art. 10-2) fallen, was dementsprechend in diesem Fall von entscheidender Bedeutung ist.

44    Wenn die vom Beschwerdeführerbeanstandeten Beschränkungen und Strafen  nicht gegen Artikel 10 (Art. 10) verstoßen sollen, müssen sie gemäß Absatz 2 (Art. 10-2) zunächst gesetzlich vorgeschrieben sein. Der Gerichtshof stellt fest, dass dies der Fall war. In der Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs waren die Gesetze von 1959/1964 die Rechtsgrundlage für die fraglichen Maßnahmen (oben, Randnrn. 14-18, … und 27-34). Im Übrigen wurde dies vom Beschwerdeführer nicht bestritten und darüber hinaus eingeräumt, dass die zuständigen Behörden diese Gesetze ordnungsgemäß angewandt haben.

45    Nachdem der Gerichtshof sich vergewissert hat, ob die beanstandeten Eingriffe die erste der in Art. 10 Abs. 2 genannten Voraussetzungen erfüllten (Art. 10-2), prüfte er, ob sie auch den übrigen Voraussetzungen entsprochen haben. Nach Ansicht der Regierung und der Mehrheit der Kommission waren die Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft …zum Schutz der ... Moral notwendig.

46   Der Gerichtshof teilt die Auffassung der Regierung und der Kommission (einstimmig), dass die Gesetze von 1959/1964 ein nach Art. 10 Abs. 2 (Art. 10-2) legitimes Ziel verfolgen, nämlich den Schutz der Moral in einer demokratischen Gesellschaft. Nur dieser letztgenannte Zweck ist in diesem Fall relevant, da der Zweck der genannten Gesetze - den Kampf gegen obszöne  Veröffentlichungen zu führen, die sich durch das Abzielen auf Verderbtheit und Verführung  efinieren - viel enger mit dem Schutz der Moral verbunden ist als mit irgendeinem anderem der weiteren Zwecke des Artikel 10 Abs. 2 (Art. 10-2).

47    Der Gerichtshof hat auch zu prüfen, ob der Schutz der Moral in einer demokratischen Gesellschaft die verschiedenen Maßnahmen erforderte, die nach den Gesetzen von 1959/1964 gegen den Beschwerdeführer und das Schulbuch ergriffen wurden. Herr Handyside beschränkt sich nicht darauf, diese Gesetze als solche zu anzugreifen: er erhebt auch – mit Blick auf die Konvention und nicht des englischen Rechts - mehrere Beschwerden über ihre Anwendung in seinem Fall.

Der Bericht der Kommission und die anschließenden Anhörungen vor dem Gerichtshof im Juni 1976 haben deutliche Meinungsverschiedenheiten in einer entscheidenden Frage ans Licht gebracht, nämlich wie zu ermitteln ist, ob die konkreten Beschränkungen und Sanktionen, die der Beschwerdeführer beanstandet, in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Moral notwendig waren. Nach Auffassung der Regierung und der Mehrheit der Kommission hat der Gerichtshof nur sicherzustellen, ob die englischen Gerichte vernünftig, in gutem Glauben und innerhalb der Grenzen des den Vertragsstaaten durch Artikel 10 Absatz 2 (Art. 10-2) eingeräumten Ermessensspielraums gehandelt haben. Andererseits sieht die Minderheit der Kommission die Aufgabe des Gerichtshofs nicht darin, das (Berufungs-) Urteil  des Inner London Quarter Sessions zu prüfen, sondern im Lichte des Übereinkommens und nur des Übereinkommens das Schulbuch selbst.

48    Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der durch die Konvention geschaffene Rechtschutzmechanismus gegenüber den nationalen Systemen zum Schutz der Menschenrechte subsidiär ist (Urteil vom 23. Juli 1968 in der Sache Belgian Linguistic, Serie A Nr. 6, S. 35, Randnr. 10 am Ende). Die Konvention überlässt in erster Linie jedem Vertragsstaat die Aufgabe, die von ihr gewährten Rechte und Freiheiten sicherzustellen. Die von der Konvention geschaffenen Organe leisten ihren Beitrag zu dieser Aufgabe, werden aber erst durch Streitverfahren und nach Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe eingeschaltet (Artikel 26) (Art. 26).

Diese Feststellungen gelten insbesondere für Artikel 10 Abs. 2 (Art. 10-2). Insbesondere ist es nicht möglich, im innerstaatlichen Recht der verschiedenen Vertragsstaaten eine einheitliche europäische Auffassung von Moral zu finden. Die Vorstellungen, die ihre jeweiligen Gesetze zu den Anforderungen der Moral einnehmen, variieren von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort, besonders in unserer Zeit, die durch eine schnelle und tiefgreifende Entwicklung der Meinungen zu diesem Thema gekennzeichnet ist. Aufgrund ihres direkten und ständigen Kontakts zu den in ihren Ländern wirkenden Kräften sind die staatlichen Behörden grundsätzlich besser als der internationale Richter in der Lage, die genauen Inhalte dieser Anforderungen festzustellen und über die Notwendigkeit  einer Einschränkung oder Strafe zu deren Entsprechung zu urteilen. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Adjektiv notwendig  im Sinne von Art. 10 Abs. 2 (Art. 10-2) nicht gleichbedeutend mit unentbehrlich ist (vgl. in Art. 2 Abs. 2 (Art. 2-2) und in Art. 6 Abs. 1 (Art. 6-1) die Worte unbedingt erforderlich … und in Art. 15 Abs. 1 (Art. 15-1) der Satzteil  soweit dies die Lage unbedingt erfordert) ist; es (das Adjektiv notwendig) hat auch nicht die Flexibilität von Ausdrücken wie zulässig, gewöhnlich  (vgl. Artikel 4 Absatz 3) (Art. 4-3), nützlich (vgl. die französische Fassung von Artikel 1 Absatz 1 des Protokolls Nr. 1) (P1-1), angemessen (vgl. Artikel 5 Abs. 3 und 6 Abs. 1) (Art. 5-3, Art. 6-1) oder wünschenswert. Es ist Aufgabe der nationalen Behörden, in erster Linie darüber zu urteilen, ob das zwingende gesellschaftliche Erfordernis vorliegt, das sich aus dem Begriff der Notwendigkeit in diesem Zusammenhang ergibt.

Folglich lässt Art. 10 Abs. 2 (Art. 10-2) den Vertragsstaaten einen Beurteilungsspielraum. Dieser Spielraum wird sowohl dem innerstaatlichen Gesetzgeber (gesetzlich vorgeschrieben) als auch den u.a. Rechtsprechungsorganen eingeräumt, die mit der Auslegung und Anwendung der geltenden Gesetze betraut sind (Urteil Engel u. a. vom 8. Juni 1976, Serie A, Nr. 22, S. 41-42, Rn. 100; vgl. zu Art. 8 Abs. 2 (Art. 8-2), De Wilde,  Urteil Ooms und Versyp vom 18. Juni 1971, Serie A Nr. 12, S. 45-46, Randnr. 93, und Golder-Urteil vom 21. Februar 1975, Serie A, Nr. 18, S. 21-22, Randnr. 45).

49   Art. 10 Abs. 2 (Art. 10-2) räumt den Vertragsstaaten allerdings keinen unbeschränkten Beurteilungsspielraum ein. Der Gerichtshof, der zusammen mit der Kommission für die Einhaltung der Verpflichtungen dieser Staaten verantwortlich ist (Artikel 19) (Art. 19), ist zuständig, endgültig darüber zu entscheiden, ob eine Einschränkung oder Strafe mit der durch Artikel 10 geschützten Meinungsfreiheit vereinbar ist (Art. 10). Der inländische Beurteilungsspielraum geht somit Hand in Hand mit einer europäischen Kontrolle. Eine solche Kontrolle betrifft sowohl das Ziel der angefochtenen Maßnahme als auch ihre Notwendigkeit; sie erstreckt sich nicht nur auf die zugrunde legenden Rechtsvorschriften, sondern auch auf die entsprechende Anwendung in der Entscheidung, auch wenn sie von einem unabhängigen Gericht erlassen wurde. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf Artikel 50 (Art. 50) des Übereinkommens (Entscheidung oder ... Maßnahme einer gerichtlichen oder sonstigen Behörde) sowie auf ihre eigene Rechtsprechung (Urteil Engel u. a. vom 8. Juni 1976, Serie A, Nr. 22, S. 41-42, Rn. 100).

Seine Kontrollfunktionen verpflichten den des Gerichtshof, den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft größte Aufmerksamkeit zu widmen. Die Meinungsfreiheit ist eine der wesentlichen Grundlagen einer solchen Gesellschaft, eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Entfaltung eines jeden Menschen. Vorbehaltlich des Artikels 10 Absatz 2 (Art. 10-2) gilt dieses Recht nicht nur für Informationen oder Ideen, die günstig aufgenommen oder als unschädlich oder unwichtig angesehen werden, sondern auch für die, die den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung beleidigen, schockieren oder beunruhigen. So wollen es Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft  gibt. Dies bedeutet unter anderem, dass jede Formvorschrift, Bedingung, Einschränkung oder Strafe, die in diesem Bereich verhängt wird, in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel stehen muss.

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: Wer von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch macht, den treffen Pflichten und Verantwortung, deren Umfang von seiner Situation und den von ihm eingesetzten technischen Mitteln abhängt. Der Gerichtshof kann von den Pflichten  und der Verantwortung der betroffenen Person nicht absehen, wenn er - wie in diesem Fall - fragt, ob Einschränkungen oder Strafdrohungen den Schutz der Moral  bezweckten, der diese Maßnahmen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig  machte.

50    Daraus folgt, dass es keineswegs Aufgabe des Gerichtshofs ist, sich an die Stelle der zuständigen nationalen Gerichte zu setzen, sondern vielmehr die Entscheidungen nach Art. 10 (Art. 10) zu überprüfen, die jene in Ausübung ihres Ermessensspielraumes getroffen haben.

Die Kontrolle des Gerichtshofs würde sich jedoch im Allgemeinen als illusorisch erweisen, wenn er diese Entscheidungen nur isoliert prüfen würde; sie muss im Licht des gesamten Falles einschließlich des hier veröffentlichen Buches und der vom Beschwerdeführer im innerstaatlichen Rechtssystem und sodann auf internationaler Ebene vorgebrachten Argumente und Beweismittel betrachtet werden. Der Gerichtshof hat auf der Grundlage der verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Informationen zu entscheiden, ob die Gründe, die die nationalen Behörden zur Rechtfertigung der von ihnen tatsächlich ergriffenen Eingriffe geführt haben, nach Artikel 10 Absatz 2 (Art. 10-2) stichhaltig und ausreichend sind (vgl. zu Artikel 5 Absatz 3 (Art. 5-3), das Wemhoff-Urteil vom 27. Juni 1968,  Serie A Nr. 7, S. 24-25, Rn. 12, das Urteil Neumeister vom 27. Juni 1968, Serie A Nr. 8, S. 37, Rn. 5, das Urteil Stögmüller vom 10. November 1969, Serie A Nr. 9, S. 39, Rn. 3, das Urteil Matznetter vom 10. November 1969, Serie A Nr. 10, S. 31, Rn. 3, und das Ringeisen-Urteil vom 16. Juli 1971,  Serie A Nr. 13, S. 42, Abs. 104).

51    Nach der oben dargelegten Methode hat der Gerichtshof nach Art. 10 Abs. 2 (Art. 10-2) die beanstandeten Einzelentscheidungen geprüft, vor allem das (Berufungs-) Urteil der Inner London Quarter Sessions.

Das genannte Urteil ist oben in den Rn. 27 bis 34 zusammengefasst. Der Gerichtshof prüfte sie im Lichte der gesamten Umstände des Falles; er hat zusätzlich … den Bericht der Kommission und die Schriftsätze, die der Kommission zwischen Juni 1973 und August 1974 vorgelegt wurden, sowie die Niederschrift der Verhandlungen vor den Quarter Sessions berücksichtigt.

52    Besondere Bedeutung misst der Gerichtshof einem Umstand bei, auf den das Urteil vom 29. Oktober 1971 abgestellt hat, nämlich das Zielpublikum des Schulbuchs. Es richtete sich vor allem an Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren. Da es direkt, sachlich und stilistisch auf das Wesentliche reduziert war, war es selbst für die jüngsten Leser leicht verständlich. Der Beschwerdeführer hatte deutlich gemacht, dass er eine Verbreitung in großem Umfang plane. Er hatte das Buch mit einer Pressemitteilung an zahlreiche Tageszeitungen und Zeitschriften zur Rezension oder zu Werbezwecken geschickt. Darüber hinaus hatte er einen bescheidenen Verkaufspreis (dreißig Pence) festgelegt, kurz nach der Erstauflage von 20.000 Exemplaren eine Nachdruck von 50.000 Exemplaren veranlasst und einen Titel gewählt, der darauf hindeutete, dass das Werk eine Art Handbuch für den Gebrauch in Schulen war.

Im Grunde enthielt das Buch rein sachliche Informationen, die im Allgemeinen richtig und oft nützlich waren, wie die Quarter Sessions anerkannten. Es enthielt aber auch, vor allem im Abschnitt über Sex  und in der Passage Sei du selbst im Kapitel über die Schüler (oben, Randnr. 32), Sätze oder Absätze, die Jugendliche in einem kritischen Stadium ihrer Entwicklung als Ermutigung hätten interpretieren können, vorzeitige und für sie schädliche Erfahrungen zu suchen oder sogar bestimmte Straftaten zu begehen. Unter diesen Umständen waren die zuständigen englischen Richter trotz der Vielfalt und der ständigen Entwicklung der Ansichten über Ethik und Erziehung im Vereinigten Königreich berechtigt, in Ausübung ihres Ermessens … zu der Annahme zu gelangen, dass das Schulbuch schädliche Auswirkungen auf die Moral vieler Kinder und Jugendlicher, die es lesen würden, haben würde.

Der Beschwerdeführer machte allerdings im Wesentlichen geltend, dass die Belange des Schutzes der Moral oder, um den Wortlaut der Gesetze von 1959/1964 zu verwenden, des Kampfes gegen verderbende und verführende Veröffentlichungen, in seinem Fall nur ein Vorwand gewesen seien. In Wahrheit habe man versucht, einen kleinen Verleger mundtot zu machen, dessen politische Richtung bei einem Teil der öffentlichen Meinung auf Missbilligung stieß. Die Einleitung des Strafverfahrens sei in einer Atmosphäre erfolgt, die kurz vor der Hysterie war und von ultrakonservativen Elementen entfacht und aufrechterhalten worden sei. Die Betonung der antiautoritären Aspekte des Schulbuchs im Urteil vom 29. Oktober 1971 ... zeige, was genau hinter dem Fall steckt (bzw. worum es wirklich geht).

Die Angaben des Beschwerdeführers scheinen in der Tat zu zeigen, dass Briefe von Personen der Öffentlichkeit, Artikel der Presse und Aktionen von Parlamentsabgeordneten nicht ohne Einfluss auf die Entscheidung waren, das Schulbuch zu beschlagnahmen und ein Strafverfahren gegen seinen Verleger einzuleiten. Die Regierung wies jedoch darauf hin, dass solche Vorkommnisse nicht mit dunklen Machenschaften zu erklären sind, sondern durch die echte Emotion der den traditionellen moralischen Werten treu gebliebenen Bürger, die Ende März 1971 in bestimmten Zeitungen Auszüge aus dem Buch lasen, das am 1. April erscheinen sollte. Die Regierung betonte ferner, dass das Strafverfahren mehrere Monate nach der vom Beschwerdeführer angeprangerten Kampagne  beendet worden sei und dass er nicht behauptet habe, dass sie bis zu dessen Ende fortgesetzt worden sei. Daraus folgerte die Regierung, dass die Kampagne keineswegs den Verfahrensablauf in den Quarter Sessions beeinträchtigte.

Der Gerichtshof stellt seinerseits fest, dass im Urteil vom 29. Oktober 1971 die antiautoritären Aspekte des Schulbuchs als solche nicht als gegen die Gesetze von 1959/1964 verstoßend angesehen wurden. Die antiautoritären Aspekte seien nur insoweit berücksichtigt worden, als das Berufungsgericht der Ansicht war, dass sie durch die Untergrabung des mäßigenden Einflusses von Eltern, Lehrern, Kirchen und Jugendorganisationen das Abzielen auf Verderbtheit und Verführung  verstärkten, die sich seiner Ansicht nach aus anderen Teilen des Buches ergeben. Hinzuzufügen ist, dass die revisdierte Ausgabe von den britischen Behörden frei zirkulieren durfte, obwohl die antiautoritären Passagen dort wieder vollständig und in einigen Fällen sogar in stärkeren Worten erschienen. … Wie die Regierung feststellte, ist dies schwer mit dem Hinweis auf einer politische Intrige vereinbar.

Der Gerichtshof lässt daher zu, dass das Hauptzweck des Urteils vom 29. Oktober 1971 bei Anwendung der Gesetze von 1959/1964 der Schutz der Moral der Jugend war und dies ein legitimer Zweck nach Artikel 10 Absatz 2 (Art. 10-2) war. Folglich waren auch die am 31. März und 1. April 1971 vorgenommenen Beschlagnahmungen, die in Erwartung des Ergebnisses des zu eröffnenden Strafverfahrens erfolgten, auf dieses Ziel gerichtet.

53   Es bleibt die Notwendigkeit  der bekämpften Maßnahmen zu überprüfen, beginnend mit den genannten Beschlagnahmen.

Wenn dem Antragsteller zu folgen wäre, hätte die Beschlagnahme höchstens ein oder wenige Exemplar(e) des Buches betreffen dürfen, um sie als Beweismittel im Strafverfahren zu verwenden. Der Gerichtshof teilt diese Auffassung nicht, da die Polizei gute Gründe hatte, ihre Hände auf den gesamten Bestand zu legen, um die Jugend vorläufig vor einer sittlichen Gefährdung zu schützen, über deren Vorliegen das erstinstanzliche Gericht zu entscheiden hatte. Die Gesetzgebungen vieler Vertragsstaaten kennen eine analoge Beschlagnahme, wie sie in Artikel 3 der englischen Gesetze von 1959/1964 vorgesehen ist.

54   Was die Notwendigkeit der Verurteilung und den in Rede stehenden Verfall betrifft, haben der Beschwerdeführer und die Kommissionminderheit eine Reihe von Argumenten vorgebracht, die überlegenswert sind.

Zunächst wiesen sie darauf hin, dass die ursprüngliche Ausgabe des Schulbuchs in Nordirland, auf der Isle of Man und den Kanalinseln zu keinem Strafverfahren führte, eine Verurteilung in Schottland nicht erfolgte und selbst in England und Wales trotz des Urteils vom 29. Oktober 1971 ungehindert tausende Exemplare in Umlauf waren.

Der Gerichtshof erinnert daran, dass Artikel 5 (3) der Gesetze von 1959/1964 bestimmt, dass sie sich nicht auf Schottland oder Nordirland erstrecken. … Vor allem darf nicht vergessen werden, dass die Konvention, wie insbesondere ihr Artikel 60 (Art. 60) zeigt, die verschiedenen Organe der Vertragsstaaten niemals verpflichtet, die von ihr garantierten Rechte und Freiheiten zu beschränken. Insbesondere zwingt Artikel 10 Absatz 2 (Art. 10-2) sie in keinem Fall, Einschränkungen oder Strafen  im Bereich der Meinungsfreiheit vorzuschreiben; die Konvention hindert die Vertragsstaaten in keiner Weise daran, von den ihnen zur Verfügung gestellten Mitteln keinen Gebrauch zu machen (vgl. die Worte kann … unterworfen werden). Angesichts der örtlichen Verhältnisse konnten die zuständigen Behörden in Nordirland, auf der Isle of Man und auf den Kanalinseln plausible Gründe gehabt haben, nicht gegen das Buch und seinen Verleger vorzugehen, … Ihre Untätigkeit, die der Gerichtshof nicht zu prüfen braucht … beweist nicht, dass das Urteil vom 29. Oktober 1971 angesichts des Ermessensspielraums der nationalen Behörden nicht einer wirklichen Notwendigkeit entsprach.

Diese Bemerkungen gelten sinngemäß auch für die Verbreitung zahlreicher Exemplare in England und Wales.

55   Der Beschwerdeführer und die Kommissionsminderheit betonten ferner, dass die revidierte Ausgabe, die sich ihrer Ansicht nach kaum von der ursprünglichen Ausgabe unterscheide, nicht Gegenstand einer Strafverfolgung in England und Wales gewesen sei.

Die Regierung hat ihnen entgegnet, den Umfang der am ursprünglichen Text des Schulbuchs vorgenommenen Änderungen bagatellisiert zu haben: … Nach Auffassung des Gerichtshofs deutet das Absehen von der Strafverfolgung gegen die revidierte Ausgabe, die sich in den streitigen Punkten ziemlich stark von der ursprünglichen Ausgabe unterschied …, eher darauf hin, dass sich die zuständigen Behörden auf das absolut Notwendige beschränken wollten, eine Haltung, die im Einklang mit Artikel 10 (Art. 10) des Übereinkommens steht.

56   Nach Ansicht des Beschwerdeführers und der Kommissionsminderheit war das Vorgehen gegen das Schulbuch und seinen Verleger im Jahr 1971 umso weniger notwendig  gewesen als eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die sich der Hardcore-Pornografie widmen und keinen intellektuellen oder künstlerischen Wert haben, im Vereinigten Königreich von einem extremen Maß an Toleranz profitierten. Sie sind den Blicken der Passanten und vor allem der Jugendlichen ausgesetzt und genießen im Allgemeinen völlige Straffreiheit, wobei die seltenen Strafverfahren, die gegen sie eingeleitet wurden, aufgrund des großen Liberalismus der Geschworenen in den meisten Fällen scheitern. …

Die Regierung konterte dies mit dem mit Zahlen belegten Hinweis, dass weder der Generalstaatsanwalt noch die Polizei trotz der spärlichen personellen Ressourcen der zuständigen Sonderabteilung untätig bleiben. …

Grundsätzlich ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, verschiedene Entscheidungen miteinander zu vergleichen, die von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten auch unter scheinbar ähnlichen Umständen getroffen wurden; und der Gerichtshof muss, ebenso wie die im Verfahren als Beschwerdegegner auftretende Regierung, die Unabhängigkeit der Gerichte achten. Im Übrigen und vor allem ist der Gerichtshof nicht mit wirklich vergleichbaren Situationen konfrontiert: wie die Regierung ausgeführt hat, geht aus den Akten nicht hervor, dass die angeführten Veröffentlichungen und Schaustellungen im gleichen Maße auf Kinder und Jugendliche abzielten, wie das Schulbuch (oben, Randnr. 52), zu dem sie leichten Zugang hatten.

57   Der Beschwerdeführer und die Kommissionsminderheit betonten ferner, dass neben der dänischen Originalausgabe auch Übersetzungen des Kleinen Buches  erschienen sind und in den meisten Mitgliedstaaten des Europarats frei zirkulierten.

Auch hier hindern der nationale Ermessensspielraum der staatlichen Behörden und der fakultative Charakter der in Artikel 10 Absatz 2 genannten Beschränkungen  und Strafdrohungen  (Art. 10-2) den Gerichtshof daran, dem Argument zu folgen. Die Vertragsstaaten haben jeder für sich ihre Vorgehensweise jeweils unter Berücksichtigung der Lage in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet gestaltet; sie haben unter anderem die dort vorherrschenden unterschiedlichen Auffassungen über die Erfordernisse zum Schutz der Moral in einer demokratischen Gesellschaft berücksichtigt. Die Tatsache, dass die Mehrzahl von ihnen beschlossen hat, die Verbreitung des Werks zu erlauben, bedeutet nicht, dass die gegenteilige Entscheidung der Inner London Quarter Sessions einen Verstoß gegen Artikel 10 (Art. 10) darstellte. Außerdem enthalten einige der außerhalb des Vereinigten Königreichs veröffentlichten Ausgaben nicht jene Stellen oder zumindest nicht alle jene Stellen, die im Urteil vom 29. Oktober 1971 als markante Beispiele für das Abzielen auf Verderbtheit und Verführung zitiert wurden.

58   Schließlich hat der Delegierte in der mündlichen Verhandlung vom 5. Juni 1976, der die Auffassung der Minderheit der Kommission vortrug, die Auffassung vertreten, dass der betreffende Staat jedenfalls keine so drakonischen Maßnahmen ergreifen hätte müssen wie die Einleitung eines Strafverfahrens, das zur Verurteilung von Herrn Handyside und zum Verfall und zur anschließenden Vernichtung des Schulbuchs geführt hat. Das Vereinigte Königreich habe gegen den dem Adjektiv notwendig  innewohnenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indem es sich weder auf eine Aufforderung an den Beschwerdeführer zur Entfernung der strittigen Stellen im Buch oder auf Verkaufs- und Werbeeinschränkungen für dieses Buch beschränkt habe.

In Bezug auf die erste Lösung argumentierte die Regierung, dass der Beschwerdeführer niemals zugestimmt hätte, das Schulbuch zu ändern, wenn er vor dem 1. April 1971 dazu aufgefordert oder darum gebeten worden wäre: Hat er nicht energisch dessen Obszönität bestritten? Der Gerichtshof beschränkt sich seinerseits auf die Feststellung, dass Artikel 10 (Art. 10) der Konvention die Vertragsstaaten sicherlich nicht verpflichtet, eine solche Vorensur einzuführen.

Die Regierung hat keine Angaben dazu gemacht, ob die zweite Lösung nach englischem Recht möglich gewesen sei. Es ist auch nicht ersichtlich, dass dies im vorliegenden Fall angemessen gewesen wäre. Es hätte kaum Sinn gemacht, den Verkauf eines Werkes, das vor allem für die Jugend bestimmt ist, auf Erwachsene zu beschränken; das Schulbuch hätte damit das Wesentliche verloren, was nach Ansicht des Beschwerdeführers die Existenzberechtigung darstellt. ...

59    Auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Informationen gelangt der Gerichtshof somit zu dem Schluss, dass unter den Umständen des vorliegenden Falles kein Verstoß gegen die Anforderungen des Art. 10 (Art. 10) erwiesen ist. …

AUS DIESEN GRÜNDEN HAT DER GERICHTSHOF

1. mit dreizehn zu einer Stimme festgestellt, dass kein Verstoß gegen Artikel 10 (Art. 10) der Konvention vorliegt; …

VII Kommentare

Kommentare in der Lehre und in den Medien

Aufgrund der Umstände, dass die Entscheidung aus dem Jahr 1976 stammt und den berühmten Leitsatz in RZ 49 (Vorbehaltlich der Bestimmung des Art. 10 Abs.2 gilt das Recht der Meinungsfreiheit nicht nur für die günstig aufgenommenen oder als unschädlich oder unwichtig angesehenen „Informationen“ oder „Ideen“, sondern auch für die, welche den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen..) wird sie in der Lehre oft - und mitunter auch in den Medien - zitiert.

Interessant ist der Medienkommentar von Joanna Moorhead in The Guardian vom 08.07 2014 unter dem Titel The Little Red Schoolbook - honest about sex and the need to challenge authority - Das kleine rote Schulbuch - Aufrichtigkeit über Sex und die Notwendigkeit, Autoritäten herauszufordern - und dem Untertitel A book for teenagers that was censored after an 'obscenity' trial in the 1970s is now being republished - Ein Buch für Teenager, das 1970 wegen Obszönität zensuriert war, wird nun wiederveröffentlicht - mit einer Schilderung des seinerzeitigen Prozesses, einem Interview mit dem Autor Sören Hansen  und dem Bericht über die (unbeanstandete) Wiederveröffentlichung der ungekürzten Fassung und darüber, was sich nach 44 Jahren verändert hat ...

Favorartis Kommentar

Zur revidierten Fassung 1970 ergibt sich aus RZ 23 des EGMR-Urteiles, dass

  • die überarbeitete Ausgabe wurde am 15. November 1971 veröffentlicht wurde
  • nach Rücksprache mit dem Generalstaatsanwalt der Direktor der Staatsanwaltschaft am 6. Dezember 1971 bekanntgab, dass die neue Ausgabe nicht Gegenstand einer Anklage sein werde.
  • diese Veröffentlichung nach dem Urteil der Quarter Sessions erfolgte ...

Die revidierte Fassung vom 15.11.1971 war daher nicht Gegenstand der obigen Entscheidung, siehe auch RZ 55. Gegenstand der Entscheidung war vielmehr die Originalfassung vom 01.04.1971. Die unbeanstandete Wiederveröffentlichung der ungekürzten Originalfassung vom 01.04.1971 im Jahre 2014 zeigt auf, dass sich die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Moral geändert haben, wie der Gerichtshof in RZ 48 schon erkannt hat.

⇒ Kein favor artis für den Verleger Richard Handyside, aber dennoch ein richtungsweisendes Urteil.

VIII Hinweise zu dieser Werbseite

  1. Im gegenständlichen Fall hat der EGMR grmäß Art 44 Abs 3 EMRK die endgültige Entscheidung zur Aufnahme in die Datenbank HUDOC zur Verfügung gestellt, wo sie (bei Eingabe des Case Title oder der Application Number) zB als Dokument in englischer Sprache abgerufen werden kann.
  2. Im gegenständlichen Fall hat der N.P. Engel Verlag eine Kurzfassung der Entscheidung in deutscher Übersetzung allein zur Aufnahme in die Datenbank HUDOC zur Verfügung gestellt und kann über die  Language versions des Falles abgerufen werden.
  3. Der hier zur Verfügung gestellte Text folgt der englischsprachigen Fassung aus der Datenbank HUDOC, da Reproduktionen (und damit auch Übersetzungen) zu Informations- und Bildungszwecken erstellt werden können. Die in den Abschnitten I, II, IV, V und VI vor Beginn von Absätzen (nicht durchgehend) eingefügten Randzahlen entsprechen den Randnummern im Urteilstext des EGMR.
  4. Die angeführten Zitate aus der deutschsprachigen Ausgabe des kleinen roten SchülerInnenbuchs 2003, aus den Wikipedia-Einträgen zum Schulbuch und zum Fall selbst sowie aus The Guardian (mit Quellenangaben) erfolgen im angeführten Umfang zur Erläuterung des Inhaltes der Webseite.
  5. Personenbezogene Daten,die über die Veröffentlichung der Entscheidung hinausgehen, ergeben sich aus dem Bekanntheitsgrad des Autors Hansen und Verlegers Handyside.

Zurück zum Seitenanfang