I Kunstwerk
Der Zweitantragsteller G sollte ab 1. Dezember 1987 in der Galerie des Erstantragstellers S, Young Unknowns Gallery in The Cut in London eine seiner Skulpturen, nämlich Human Earrings im Rahmen der Ausstellung Animals ausstellen. Diese Skulptur bestand aus dem Kopf eines Models, an dessen Ohren je ein Ohrring befestigt war, der je aus einem gefriergetrockneten menschlichen Fötus von drei bis vier Monaten Tragezeit bestand und durch Einschrauben einer Fassung in den Schädel des Fötus an die Ohrlappen des Models gehängt war.
Die Skulptur wurde am 1. Dezember 1987 von der Polizei beschlagnahmt.
Auf der Webseite des Künstlers ist unter dem Titel Art that's hard to look at eine Abbildung der Skulptur zu sehen.
Die Skulptur befindet sich laut Angaben des Künstlers im Black Museum (nunmehr Crime Museum) in London.
Im englischsprachigen Wikipedia sind im Artikel Shock Art Arbeiten des Künstlers Rick Gibson als Select notable examples erwähnt, darunter die Skulptur Human Earrings aus dem Jahr 1987.
Die Skulptur, das Verfahren vor den englischen Gerichten (R v Gibson and another) und das Medienecho auf den Fall sind im englischspachigen Wikipedia im Artikel Rick Gibson beschrieben.
Das Verfahren beim EGMR ist darin nicht erwähnt.
Schlagworte
Freiheit der Meinungsäußerung Art 10 EMRK - Skulptur - Common Law Straftat - Kunstfreiheit - Beschlagnahme - Aufbewahrung im Black Museum
III Parteien
Der Erstantragsteller S ist britischer Staatsbürger, geboren 1945 und wohnhaft in London. Er ist Kurator einer privaten Kunstgalerie. Der Zweitantragsteller R ist kanadischer Staatsbürger, geboren 1951 und wohnhaft in Vancouver. Er ist bildender Künstler / Bildhauer von Beruf.
IV Nationales Verfahren
A Die besonderen Umstände des Falles
Am 1. Dezember 1987, kurz nach der Eröffnung der Ausstellung, erschien die Polizei in der Galerie und beschlagnahmte die Skulptur. In der Folge wurden die Antragsteller wegen offence of outraging public decency (Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand), eine Straftat nach englischem Common Law, angeklagt und im Geschworenenverfahren verurteilt. Im Gegensatz zu Straftaten nach dem Obscene Publications Act 1959 (Gesetz gegen obszöne Veröffentlichungen) hatten die Antragsteller keine Möglichkeit, als Verteidigung gegen die Anklage den überwiegenden künstlerischen Wert der Skulptur vorzutragen. Gegen den Erstantragsteller wurde eine Geldbuße von 350 £ verhängt. oder 21 Tage Freiheitsstrafe und gegen den Zweitantragsteller eine solche von £ 500 oder 28 Tage Freiheitsstrafe. Das Berufungsgericht wies die Berufung der Antragsteller am 10. Juli 1990 zurück.
Aus Zeitungsberichten über das Urteil des Berufungsgerichts geht hervor, dass die Antragsteller offenbar geltend gemacht hatten, dass es keine Common Law Straftat offence of outraging public decency (Verstoß gegen den öffentlichen Anstand) gab und dass sie nur - wenn überhaupt - nach § 2 des Obscene Publications Act 1959 (Gesetz gegen obszöne Veröffentlichungen) verfolgt hätten werden dürfen, der ihnen die gesetzliche Einrede des innewohnenden künstlerischen Wertes (§ 2 Abs. 4 dieses Gesetzes) eröffnet hätte. Der Lord Chief Justice hat festgestellt, dass der Verstoß gegen den öffentlichen Anstand seit 1973 aus dem Fall R v. Knuller (Verlags-, Druck- und Promotions) Ltd. ((1973) AC 435, 493) abgeleitet wird.
Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass es einen tatsächlichen und moralischen Unterschied zwischen der Straftat nach dem Gesetz von 1959 gibt, das Dinge verbietet, die nach den anerkannten Standards des Anstands darauf abzielen, die öffentliche Moral zu verderben und der Straftat des Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand, die auf Material abstellt, das auf Abscheu, Ekel und Entrüstung abzielt, unabhängig davon, ob die öffentliche Moral betroffen ist oder nicht. Das Gericht hat auch das Vorbringen der Antragsteller zurückgewiesen, dass für den Erfolg einer solche Anklage nach dem Common Law eine spezifische Form der mens rea (Absicht oder Rücksichtslosigkeit) in Bezug auf den Verstoß gegen den öffentlichen Anstand erforderlich sei. Ihre Lordschaften waren der Ansicht, dass dies kein notwendiges Tatbestandsmerkmal sei. Es genügte, dass die Absicht eine Handlung zu begehen, die tatsächlich gegen den öffentlichen Anstand verstoßen hat. Selbst wenn der Verstoß unbeabsichtigt war, hatte die Öffentlichkeit das Recht, unabhängig von der Absicht des Angeklagten geschützt zu werden. Das Berufungsgericht lehnte die weitere Berufung an das House of Lords ab.
V Nationales Recht
B Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige Praxis
Nach Ansicht der Antragsteller wurde der allgemeine Straftatbestand des Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand zuerst vom Haus of Lords im Fall R v. Knuller (Verlags-, Druck- und Promotions) Ltd. ((1973) AC 435) für anwendbar erklärt, und zwar nach einer nicht fallbezogenen Aussage im Fall Shaw v Director of Public Prosecution ((1962) AC 220). Zuvor hatte es betreffend homosexuelle Handlungen an öffentlichen Orten eine erfolgreiche Anklage 1963 gegeben, als eine Person wegen Handlungen unzüchtiger, obszöner und ekelhafter Natur verurteilt wurde, die einen Verstoß gegen den öffentlichen Anstand darstellten (R v. Mayerling (1963) 2 Q.B. 717). In diesem Fall hatte das Berufungsgericht für Strafsachen entschieden, dass es allgemein anerkannt war, dass es ein Common-Law-Vergehen der Begehung einer Handlung gab, die gegen den öffentlichen Anstand verstößt. In der oben genannten Shaw-Entscheidung von 1962 hatte Lord Reid folgendes erklärt:
Ich werde die Rechtsgrundlagen nicht prüfen, weil ich denke, dass sie festlegen, dass es sich um eine strafbare Handlung handelt, etwas in der Öffentlichkeit zu tun, zu sagen oder auszustellen, das gegen den öffentlichen Anstand verstößt, unabhängig davon, ob auch darauf abgezielt wird, diejenigen zu verderben und zu verführen, die es sehen oder hören.
Der Solicitor General erklärte 1964, dass diese Common Law Straftat nicht dazu verwendet würde, Abschnitt 2 des Obscene Publications Act 1959 zu umgehen, dessen Unterabsatz 4 bei Strafverfolgung wegen Veröffentlichung obszönen Materials, den Einwand des innewohnenden künstlerischer Wertes vorsieht.
Der Common-Law-Verstoß wurde weiter präzisiert und angewandt auf bestimmte Dating-Anzeigen in einer Zeitschrift für Homosexuelle im Knuller Fall, als das House of Lords die zuvor genannte Ansicht von Lord Reid bestätigte. Im Knuller Urteil betonte Lord Simon bestimmte Merkmale der Straftat, die einem Geschworenengericht durch den Richter zur Kenntnis gebracht werden sollten:
Es sollte betont werden, dass Empörung und korrupt starke Worte sind. Verstoß gegen den öffentlichen Anstand geht erheblich über die Verletzung der Empfindlichkeiten oder die Empörung von vernünftigen Menschen hinaus. Darüber hinaus hat die Straftat mit anerkannten Mindeststandards von Anstand zu tun, die wahrscheinlich von Zeit zu Zeit variieren. Ungeachtet dessen, dass öffentlich in der Straftat im ortsbezogenen Sinn verwendet wird, muss der öffentliche Anstand als Ganzes beachtet werden; ... die Jury sollte eingeladen werden, sich daran zu erinnern, dass sie in einer pluralistischen Gesellschaft mit einer Tradition der Toleranz gegenüber Minderheiten lebt und dass diese Atmosphäre der Toleranz selbst Teil des öffentlichen Anstands ist.
VI Rechtliche Beurteilung der Kommission
BESCHWERDEN
Die Antragsteller rügen einen ungerechtfertigten Eingriff in ihre Meinungsfreiheit gemäß Artikel 10 des Übereinkommens. Sie machen geltend, dass die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, einschließlich der Schaffung und Verbreitung von Kunstwerken, durch diese Konventions-bestimmung geschützt ist (Urteil des Gerichts Müller u. a. vom 24. Mai 1988, …, Ziffer 27). Sie bringen auch vor, dass der fragliche Eingriff weder gesetzlich vorgeschrieben noch in einer demokratischen Gesellschaft für den Schutz der Moral notwendig war. Der Eingriff stand in keinem Verhältnis zu jeglichen Zielen, da das Fehlen jeder Abwägung der widerstreitenden Interessen vorgegeben war und sie keine Möglichkeit hatten, die Gründe ihres Handelns im Wege einer Einrede gegen die Strafanzeige zu erklären.
DAS GESETZ
Die Beschwerdeführer beanstanden, dass ihre Verurteilung und Bestrafung wegen Verletzung des öffentlichen Anstands einen ungerechtfertigten Eingriff in die ihre Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Artikel 10 (Art. 10) des Übereinkommen darstelle, dessen entsprechender Teil wie folgt lautet:
- Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. …
- Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen … Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse … des Schutzes der Gesundheit und der Moral, … unentbehrlich sind, …
Die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks fällt in den Bereich der Rechte, die durch Artikel 10 Absatz 1 (Art. 10-1) der Konvention geschützt sind. Das Freiheit besteht nicht nur in der Freiheit, Kunstwerke zu schaffen, sondern auch in der Freiheit, sie durch Ausstellungen zu verbreiten (… Urteil Müller u. a. vom 24. Mai 1988, …, Abs. 27 ..). Die Kommission stellt fest, dass die auf ihre öffentlichen Ausstellung der Skulptur des Zweitantragstellers Human Earrings folgende Verurteilung und Bestrafung der Antragsteller wegen des Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand einen Eingriff in die Ausübung ihrer Meinungsfreiheit darstellt. Das Strafverfahren führte eindeutig zur Verhängung von Strafen gegen die Antragsteller im Sinne von Art.10 Abs. 2 (Art. 10-2) der Konvention. Die Kommission muss daher mit der Prüfung fortfahren, ob der fragliche Eingriff gesetzlich vorgeschrieben war, eines oder mehrere der legitimen Ziele nach Art. 10 Abs. 2 (Art. 10-2) verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, um dieses Ziel oder diese Ziele zu erreichen.
Die Antragsteller machen zunächst geltend, dass die Verfolgung der Verletzung des öffentlichen Anstands gesetzlich nicht vorgeschrieben war, da sie eine Straftat mit mangelhafter Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit darstellte, wie dies in der Rechtssache The Sunday Times (vom 26. April 1979, … Rn. 47-49) definiert wurde. Sie machen ua geltend, dass die Anklage -wenn überhaupt - nur auf den gesetzlichen Straftatbestand der Obszönität in Abschnitt 2 des Obscene Publications Act 1959 gestützt hätte werden können, der in seiner vierten Unterabsatz den Einwand des innewohnenden künstlerischen Wertes vorsieht. Das hätte dem Prozessgericht ermöglicht, die widerstreitenden Interessen auszugleichen.
Wie der Gerichtshof in der oben genannten Rechtssache Sunday Times festgestellt hat, umfasst das Wort Gesetz im Ausdruck gesetzlich vorgeschrieben nicht nur Gesetze, sondern auch ungeschriebenes Recht. Keine Bedeutung kann daher dem Umstand zukommen, dass die Straftat, derentwegen die Beschwerdeführer verfolgt wurden, ein Ergebnis des Common Law und nicht der Gesetzgebung war. Unabhängig von der Rechtsquelle muss hinreichend klar sein:
Nach Auffassung des Gerichts betreffen die folgenden Ausführungen zwei der Anforderungen, die sich aus dem Ausdruck vom Gesetz vorgegeben ergeben. Erstens muss das Gesetz ausreichend zugänglich sein: Der Bürger muss geeignete Hinweise auf Umstände in Rechtsvorschriften haben, die auf einen bestimmten Fall anwendbar sind. Zweitens kann eine Norm nicht als Gesetz betrachtet werden, es sei denn, sie ist mit ausreichender Präzision formuliert, die es dem Bürger ermöglicht, sein Verhalten danach zu richten: Er muss - erforderlichenfalls mit entsprechender Beratung - in der Lage sein, die Folgen, die eine bestimmte Handlung nach sich ziehen kann, in einem den Umständen angemessenen Maß vorherzusehen. Jene Folgen müssen nicht mit absoluter Sicherheit vorhersehbar sein: Die Erfahrung zeigt, dass dies unerreichbar ist. Wenn Gewissheit auch höchst wünschenswert ist, kann sie übermäßige Starrheit mit sich bringen und das Gesetz muss mit ändernden Umständen Schritt halten können. Dementsprechend sind viele Gesetze unvermeidbar mit Begriffen formuliert, die mehr oder minder vage sind und deren Auslegung und Anwendung Fragen der Praxis sind. (Ebd., S. 31, Ziffer 49)
Zum Sachverhalt des vorliegenden Falles stellt die Kommission fest, dass der Common-Law-Verstoß gegen den öffentlichen Anstand klar oder zugänglich war und zwar seit dem Knuller Fall im Jahr 1973, wenn nicht seit der Fall Mayerling im Jahr 1963 (siehe einschlägiges innerstaatliches Recht und Praxis oben). Gestützt auf das Urteil von Lord Simon in der Rechtssache Knuller scheint es den Antragstellern freigestanden zu haben, vor dem erstinstanzlichen Gericht geltend machen, dass die fragliche Skulptur keinen Verstoß gegen den öffentlichen Anstand darstellte, wenn das Klima der Toleranz an sich Teil des öffentlichen Anstands in einer pluralistischen Gesellschaft ist. Es scheint daher, dass diese Freiheit der Meinungsäußerung in der Strafverfolgung für diese Tat nicht gänzlich irrelevant ist.
Die innerstaatlichen Gerichte erklärten im Fall der Antragsteller den qualitativen Unterschied zwischen der Common Law Straftat der Verletzung des öffentlichen Anstands und des gesetzlichen Straftatbestands der Obszönität auf der Basis von Fakten und der Sittlichkeit, wobei die Common Law Straftat bei anstößigerem Material betroffen ist, das solche Abscheu, Ekel und Empörung hervorruft, dass es unerheblich ist, ob die Auswirkung tatsächlich in der Untergrabung der öffentliche Moral besteht. Diese Unterscheidung betrifft – aus Sicht der Kommission – den Einwand der Antragsteller, dass sie eine Strafverfolgung wegen der Common Law Straftat eher nicht vorhersehen konnten, als eine unter Abschnitt 2 des Obscene Publications Act 1959. Die Kommission stellt daher fest, dass die Antragsteller einen unter den gegebenen Umständen hinreichenden Hinweis auf das Vorliegen eines Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand hatten. Die Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit der Antragsteller war somit vom Gesetz vorgesehen gemäß der Bestimmung des Artikel 10 Absatz 2 (Art. 10-2) des Übereinkommens.
Die Antragsteller räumen ein, dass der Eingriff in ihre Freiheit der Meinungsäußerung unter das legitime Ziel des Schutzes der Moral im Sinne von Artikel 10 Absatz 2 (Art. 10-2) der Konvention fallen kann. Die Kommission stellt fest, dass der Sachverhalt des vorliegenden Falles bestätigt, dass die Antragsteller zum Zwecke der Schutz der Moral verfolgt wurden.
Die Antragsteller machen geltend, dass die Beschränkung ihrer Meinungsfreiheit unverhältnismäßig war, da Einschränkungen ihrer Verteidigung durch den Vorwurf des Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand gegeben waren. Sie brachten ua vor, dass ihre Verurteilung eine abschreckende Wirkung auf die Künstlergemeinschaft als Ganzes habe und Kunstgalerien aus Angst vor solchen Strafverfolgungen bei Ausstellung kontroversieller Arbeiten in Zukunft äußerst vorsichtig sind, Die ausgewogene Schutz des Obscene Publications Act 1959 kann nun umgangen werden, indem eine Strafverfolgung auf der Grundlage formuliert wird, dass der Gegenstand eher beleidigend und ekelhaft als obszön ist, eine Unterscheidung, die ihrer Ansicht nach in der Realität ohnedies unmöglich zu treffen ist.
Die Kommission betont den großen Ermessensspielraum, der den Staaten zum Schutz der Moral eingeräumt ist, da eine einheitliche europäische Konzeption nicht besteht. Daher sind Künstler nicht immun gegen Einschränkungen ihrer diesbezüglichen Arbeit, die sich aus der besonderen Berücksichtigung des ausdrücklichen Hinweises auf ihre Pflichten und Verantwortlichkeiten in Artikel 10 Absatz 2 (Art. 10-2) des Übereinkommens ergeben. Aufgrund ihres unmittelbaren und ständigen Kontaktes mit den wesentlichen Mächten ihrer Länder sind Staaten grundsätzlich besser in der Lage als die Organe des Konvention, die Beurteilung der Notwendigkeit einer Beschränkung der künstlerischen Freiheit zum Schutz der guten Sitten vorzunehmen. (Müller und Sonstige Urteil vom 24. Mai 1988, , Randnr. 33-35).
Zum Sachverhalt des vorliegenden Falles stellt die Kommission fest, dass die Skulptur des Zweitantragstellers zwei gefriergetrocknete Föten von drei bis vier Monaten Tragzeit als Ohrringe verwendete. Die Skulptur war in einer Ausstellung gezeigt, die für das Publikum offen war und es anziehen wollte. Unter diesen Umständen hält die Kommission die Auffassung der englischen Gerichte, dass dieses Werk ein Verstoß gegen den öffentlichen Anstand war, für nicht unbegründet. Unter Bezugnahme auf den Ermessensspielraum, der ihnen nach Artikel 10 Absatz 2 (Art. 10-2) des Übereinkommens überlassen ist, waren die innerstaatlichen Gerichte berechtigt, es als notwendig für den Schutz der guten Sitten anzusehen, eine Geldstrafe gegen die Antragsteller für die Ausstellung des Stücks auszusprechen. Daraus folgt, dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet im Sinne von Art. 27 Abs. 2 ist (Art. 27-2) des Übereinkommens ist.
Aus diesen Gründen erklärt die Kommission einstimmig die Beschwerde für unzulässig.
VII Kommentare
Kommentare in der Lehre und den Medien
Paul Kearnes kommentiert den Fall Foetus Earrings in seinem Werk the legal concept of art, Hart Publishing, Oxford 1998, S 29ff ausführlich ua dadurch, dass (Zitat)
- schon die innerstaatliche Berufungsentscheidung viele interessante Punkte für die Kunstwelt ausweist (S 31), so etwa dass
- das Berufungsgericht in seiner Entscheidung Gibson in Anbetracht seines Werkes nicht als Künstler bezeichnet hat, was deswegen wichtig ist, weil es bedeutet, dass die verletzende Aktion nicht so behandelt wurde, dass ein besonderer kultureller Wert oder eine besondere kulturelle Bedeutung vorgegeben war (S 31),
- die Verfolgung der Angeklagten wegen der Common Law Straftat des Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand es möglich machte, die Bedeutung des Kunstthemas zu minimieren (S 32),
- bei einer Anklage wegen des Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand wenig Hoffnung auf eine faire Verteidigung für den Künstler und Galeristen besteht, wenn kein Mittel vorhanden ist, um das charakteristische Wesen der Kunst in die Erwägungen einzubeziehen und
- dann, wenn das Berufungsgericht die seit langem bestehende Bedeutung der Kunst als kulturelles Phänomen und die damit einhergehende Bedeutung der Kunstfreiheit als Rahmen für seine Entscheidung beachtet hätte, gemäß der besonderen Position der Kunst ua zu unterscheiden gewesen wäre (S 33), dass
- vernünftige Menschen wissen, dass Kunst schockieren kann (oder sogar muss) und eine Kunstgalerie besonders wahrscheinlich der Ort ist, um Kunst zu entdecken und zu sehen und
- dann, wenn das Erfordernis der Öffentlichkeit beim Verstoß gegen den öffentlichen Anstand ortsbezogen zu sehen ist, dem Umstand, dass das Objekt Kunst ist und in einer Kunstgalerie ausgestellt ist, besondere Bedeutung zukommt
und schließlich laut FN 120 (S 34)
- in der Kunst sich das Problem der Hässlichkeit auflöst; denn Behagen und Schönheit bestimmen oder erfassen weder das ästhetische Erleben noch das Kunstwerk.
- die Annehmlichkeit oder Widerwärtigkeit eines Symbols weder allgemen seine wahrnehmbare Wirkung noch seinen besonderen künstlerischen Wert festlegt.
- Macbeth und Goya’s Hexensabbat ebenso wenig Rechtfertigung mehr erfordern wie Pygmalion oder Boticelli’s Venus.
Anmerkung des Websitebetreibers: Goya's Bild aus dem Jahr 1798 wurde zur Illustration ausgewählt, da laut Bildbeschreibung im englischsprachigen Wikipedia ein toter Kindeskörper und drei tote Kleinkinder im linken Teil des Bildes erkannt werden können.
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Paul Kearns erwähnt in FN 120 (siehe oben) auch die Argumentation Gibson's im Verfahren, dass man an den Human Earrings die Realität der Geringwertigkeit des Lebens sieht, wenn sie als bloßer Schmuck im kosmetischen Zeitalter der Postmoderne benützt werden und weiter (auf S 37) den Umstand, dass sich im September 1997 in der Ausstellung Sensation kontroversiellen Werke von avant-garde young British artists teilweise in einem eigenen nur für Erwachsene zugänglichen Raum befanden, auf dem Ticket darauf hingewiesen wurde, dass einige Kunstwerke als widerlich angesehen werden könnten und Eltern ihr Urteilsvermögen ausüben sollten, wenn sie Kinder in die Ausstellung mitnehmen und vielleicht wegen dieser Warnungen eine strafrechtliche Verfolgung vermieden würde.
⇒ Kein Favorartis für Künstler und Galerist, da die nationalen Gerichte durch die Anwendung einer Common Law Straftat keine (ausreichende) Güterabwägung vorgenommen haben und die Kommission die Beurteilung den nationalen Gerichten überließ. Insgesamt lassen sich in diesem Fall Argumente pro und contra finden, wobei - wie in anderen Fällen auch - Zugangsbeschränkungen und Hinweise dazu geführt hätten, dass die Skulptur nun nicht im - nur für die britische Poliziei zugänglichen - Crime Museum ausgestellt wird.
VIII Hinweise zu dieser Webseite
- Im gegenständlichen Fall hat der EGMR grmäß Art 44 Abs 3 EMRK die endgültige Entscheidung zur Aufnahme in die Datenbank HUDOC zur Verfügung gestellt, wo sie (bei Eingabe des Case Title oder der Application Number) zB als Dokument in englischer Sprache abgerufen werden kann..
- Der hier zur Verfügung gestellte Text folgt der englischsprachigen Fassung aus der Datenbank HUDOC, da Reproduktionen (und damit auch Übersetzungen) zu Informations- und Bildungszwecken erstellt werden können.
- Die angeführten Zitate aus der Website des Künstlers, aus dem englischsprachigen Wkipedia (zum Crime Museum, zur Shock Art, zu Rick Gibson und zu Goya's Witches Sabbath) und aus dem Werk the legal concept of art von Paul Kearnes (mit Quellenangaben) erfolgen im angeführten Umfang zur Erläuterung des Inhaltes der Webseite.
- Personenbezogene Daten,die über die Veröffentlichung der Entscheidung hinausgehen, ergeben sich aus dem Bekanntheitsgrad der angeführten Personen.