I Kunstwerk
11 Innerhalb von drei Nächten fertigte Josef Felix Müller, der von einem der anderen Künstler zur Fri Art 81 eingeladen worden war, drei große Gemälde (3,11 m x 2,24 m, 2,97 m x 1,98 m und 3,74 m x 2,20 m) mit dem Titel "Drei Nächte, drei Bilder". Sie waren seit Beginn der Ausstellung mit dem Titel "Fri-Art 81" in Freiburg am 21.08.1981 zu sehen. Die Organisatoren luden mehrere Künstler zur Teilnahme ein, von denen jeder einen anderen Künstler seiner Wahl einladen durfte. Die Künstler sollten den ihnen zugewiesenen Raum frei nutzen. Ihre Werke, die sie ab Anfang August 1981 vor Ort schufen, sollten nach dem Ende der Ausstellung am 18.10.1981 entfernt werden. Die Ausstellung war in der Presse und auf Plakaten beworben worden und war für das Publikum zugänglich, ohne dass ein Eintrittspreis erhoben wurde. Der eigens für die Vorschau gedruckte Katalog enthielt eine fotografische Reproduktion der Gemälde.
II Schlagworte
Freiheit der Meinungsäußerung Art 10 EMRK - Unzüchtige Veröffentlichungen - Kunstfreiheit - Beschlagnahme und Verwahrung statt Vernichtung -Ausfolgung
III Parteien
8. Der erste Beschwerdeführer, der 1955 geborene Maler Josef Felix Müller, lebt in St.Gallen, siehe den Eintrag in Wikipedia, der zwar die Beschlagnahme seiner Bilder, aber die gegenständliche Entscheidung nicht anführt;
Die anderen neun Beschwerdeführer sind:
- a) Charles Descloux, Kunstkritiker, geboren 1939 und in Freiburg lebend;
- b) Michel Gremaud, Kunstlehrer, geboren 1944 und in Guin, Garmiswil lebend;
- c) Christophe von Imhoff, Bildrestaurator, geboren 1939 und in Belfaux lebend;
- d) Paul Jacquat, Bankangestellter, geboren 1940 und in Belfaux lebend;
- e) Jean Pythoud, Architekt, geboren 1925 und in Freiburg lebend;
- f) Geneviéve Renevey, Gemeindearbeiter, geboren 1946 und in Villars-sur-Gléne lebend;
- g) Michel Ritter, Künstler, geboren 1949 und in Montagny-la-Ville lebend, siehe den Eintrag in Wikipedia, der die gegenständliche Entscheidung kurz anführt;
- h) Jacques Sidler, Fotograf, geboren 1946 und in Vuisternens-en-Ogoz lebend;
- (i) Walter Tschopp, Assistenzdozent, geboren 1950 und in Freiburg lebend.
IV Sachverhalt
9 Josef Felix Müller hat seit 1981 in vielen Galerien und Museen in und außerhalb der Schweiz allein und mit anderen Künstlern ausgestellt. Mit Unterstützung des Bundesamtes für Kultur nahm er 1984 als Schweizer Vertreter an der Biennale in Sydney teil. Er wurde mehrfach ausgezeichnet und verkaufte Werke an Museen wie die Kunsthalle in Zürich.
10 1981 veranstalteten die neun zuletzt genannten Bf eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst in Freiburg im ehemaligen Großen Seminar, einem Gebäude, das abgerissen werden sollte. Die Ausstellung mit dem Titel "Fri-Art 81" fand im Rahmen der Feierlichkeiten zum 500sten Jahrestag des Eintrittes des Kantons Freiburg in die Schweizerische Eidgenossenschaft statt, siehe dazu den Eintrag in Wikipedia über die Eröffnung einer festen Einrichtung für moderne Kunst in der Stadt Freiburg im Jahre 1990. Die Organisatoren luden mehrere Künstler zur Teilnahme ein, von denen jeder einen anderen Künstler seiner Wahl einladen durfte. Die Künstler sollten den ihnen zugewiesenen Raum frei nutzen. Ihre Werke, die sie ab Anfang August 1981 vor Ort schufen, sollten nach dem Ende der Ausstellung am 18. Oktober 1981 entfernt werden.
11 Innerhalb von drei Nächten fertigte Josef Felix Müller, der von einem der anderen Künstler eingeladen worden war, drei große Gemälde (3,11 m x 2,24 m, 2,97 m x 1,98 m und 3,74 m x 2,20 m) mit dem Titel "Drei Nächte, drei Bilder. Sie waren seit Beginn der Ausstellung am 21 August 1981 zu sehen. Die Ausstellung war in der Presse und auf Plakaten beworben worden und war für das Publikum zugänglich, ohne dass ein Eintrittspreis erhoben wurde. Der eigens für die Vorschau gedruckte Katalog enthielt eine fotografische Reproduktion der Gemälde.
12 Am Tag der offiziellen Eröffnung, dem 04.09.1981 meldete der Staatsanwalt des Kantons Freiburg dem Ermittlungsrichter, dass die fraglichen Gemälde offenbar unter Artikel 204 des Strafgesetzbuches fallen, der obszöne Veröffentlichungen verbietet und deren Vernichtung vorsah (siehe unten, Randnr. 20). Der Staatsanwalt war der Ansicht, dass eines der drei Bilder auch die Religionsfreiheit im Sinne von Artikel 261 des Strafgesetzbuches verletzte.
Nach Angaben der Regierung ist der Staatsanwalt auf Schilderungen eines Mannes, dessen minderjährige Tochter auf die ausgestellten Gemälde heftig reagiert hatte, eingeschritten. Einige Tage zuvor hatte ein anderer Besucher der Ausstellung offenbar eines der Gemälde zu Boden geworfen, mit Füßen getreten und zerknittert.
13 Begleitet von seinem Angestellten und einigen Polizeibeamten kam der Untersuchungsrichter am 04.09.1981 in die Ausstellung und ließ die umstrittenen Bilder entfernen und beschlagnahmen; zehn Tage später erließ er eine Beschlagnahmeanordnung. Am 30 September 1981 wies die Anklagekammer eine Beschwerde gegen diese Entscheidung ab.
Nach der Befragung der zehn Bf. am 10., 15. und 17.09. und 06.11.1981 kam es zur Verhandlung beim Strafgericht des Bezirkes Saanen.
V Nationales Verfahren
14 Am 24. Februar 1982 verurteilte das Gericht jeden von ihnen zu einer Geldstrafe von 300 Schweizer Franken (SF) wegen öffentlicher Ausstellung unzüchtiger Gegenstände (Art 204 Abs 1 Strafgesetzbuch), sprach sie aber vom Vorwurf der Verletzung der Religionsfreiheit frei (Art 261). Außerdem ordnete es an, die beschlagnahmten Gemälde zur Verwahrung im Museum für Kunst und Geschichte des Kantons Freiburg zu deponieren. In der mündlichen Verhandlung am 24. Februar wurde Herr Jean-Christophe Ammann, der Kurator der Kunsthalle in Basel zum Beweise der künstlerischen Qualitäten von Josef Felix Müller gehört.
In seinem Urteil wies das Gericht zunächst darauf hin, dass "das Gesetz die Unzüchtigkeit im Sinne von Art. 204 des Strafgesetzbuches nicht definiert und dass der Begriff durch Auslegung zu präzisieren war". Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs führte es aus:
"Im vorliegenden Fall sind die drei Werke von Herrn Müller zumindest abstoßend. Der Gesamteindruck vermittelt Zügellosigkeit und sogar Perversion. Die Themen - Sodomie, Fellatio, Bestialität, der erigierte Penis - sind offensichtlich moralisch anstößig für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Obwohl Veränderungen der Moral – auch zum Schlechten - berücksichtigt werden müssen, wäre das, was hier vorliegt, revolutionär. Ein Kommentar zu den beschlagnahmten Werken ist überflüssig; ihre Vulgarität liegt klar auf der Hand.
... Von einer Person mit gewöhnlichem Empfinden kann auch nicht erwartet werden, dass sie dem nachgeht, was tatsächlich dargestellt wird und eine zweite Betrachtung des Bildes unabhängig davon vornimmt, was sie tatsächlich sehen kann, Dazu müsste sie von einer Prozession von Sexualwissenschaftlern, Psychologen, Kunsttheoreten oder Ethnologen zu Ausstellungen begleitet werden, um erklärt zu bekommen, dass das, was sie sah, in Wirklichkeit das war, was sie fälschlicherweise sah.
Schließlich sind die Vergleiche mit den Werken von Michelangelo und J. Bosch trügerisch. Abgesehen davon, dass Müllers Gemälde keine Darstellungen dieser Art enthalten, kann kein gültiger Vergleich mit Kunstgeschichte oder Kultursammlungen angestellt werden, in denen Sexualität vorkommt ..., aber ohne in Geschmacklosigkeit abzugleiten. Selbst mit einem künstlerischen Ziel ist grobe Sexualität nicht schutzwürdig ... . Auch Vergleiche mit Zivilisationen, die der westlichen Zivilisation fremd sind, sind nicht gültig."
Auf die Frage, ob die Vernichtung der Bilder nach Artikel 204 Absatz 3 anzuordnen sei (siehe unten, Randnr. 20), erklärte das Gericht:
"Trotz Bedenken wird das Gericht die Vernichtung der drei Werke nicht anordnen.
Der künstlerische Wert der drei in Freiburg ausgestellten Werke ist zwar weniger offensichtlich, als der Zeuge Ammann vermutet, der auch sagte, dass die Gemälde, die Müller in Basel ausgestellt habe, "anspruchsvoller" waren. Das Gericht würde nicht widersprechen. Müller ist zweifellos ein befähigter Künstler, vor allem in der Komposition und in der Verwendung von Farbe, auch wenn die in Freiburg beschlagnahmten Werke eher gepfuscht erscheinen.
Nichtsdestotrotz lässt das Gericht der Meinung des Kunstkritikers den Vortritt ohne sie zu teilen und stimmt mit den einschlägigen Feststellungen des Bundesgerichtshofs im Urteil Rey (ATF 89 IV 136 ff.) überein, dass es statt einer Vernichtung genügt, die drei Gemälde in ein Museum zu geben, um sie der allgemeinen Öffentlichkeit vorzuenthalten. Der Kurator des Museums muss sie dann nur wenigen ernsthaften Spezialisten zeigen, die in der Lage sind, anstelle eines lüsternen ein ausschließlich künstlerisches oder kulturelles Interesse zu haben, Die Aufbewahrung im Museum für Kunst und Geschichte des Kantons Freiburg erfüllt die Voraussetzung, einen weiteren Verstoß gegen Artikel 204 des Strafgesetzbuches zu verhindern. Die drei beschlagnahmten Gemälde werden dort deponiert.
15 Alle Bf legten am 24.02.1982 Rechtsmittel ein; sie stellten insbesondere die Auslegung des Gerichts in Bezug auf die Unzüchtigkeit der betreffenden Gemälde in Frage. So argumentierte beispielsweise Josef Felix Müller (im Plädoyer vom 16.03.1982), dass etwas Unzüchtiges direkt darauf abzielte, sexuelle Leidenschaft zu wecken, und dass dies sein Zweck sein müsse, mit dem wesentlichen Ziel, niedere Instinkte des Menschen oder finanziellen Gewinn anzusprechen. Dies sei nie der Fall gewesen "weil künstlerische oder wissenschaftliche Bemühungen im Vordergrund standen".
16 Das am 26.04.1982 tagende Freiburger Kantonsgericht wies die Rechtsmittel ab.
Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs räumte es ein, dass sich "in der jüngeren Vergangenheit und auch heute noch die allgemeinen Ansichten der Öffentlichkeit über Moral und Gesellschaft, die zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten variieren, in einer Weise verändert haben, die es ermöglicht, die Dinge objektiver und natürlicher zu sehen". Das Gericht musste diese Änderung berücksichtigen. Dies musste aber nicht bis zur völligen Duldung gehen, die keinen Spielraum für die Anwendung von Artikel 204 des Strafgesetzbuches gelassen hätte.
Was Kunstwerke betrifft, haben sie an sich keinen privilegierten Status. Trotz ihrer Unzüchtigkeit können sie aber vor ihrer Vernichtung geschützt werden. Ihre Schöpfer fallen jedoch in den Anwendungsbereich von Artikel 204, "da diese gesetzliche Bestimmung als Ganzes dazu bestimmt ist, die öffentliche Moral zu schützen, auch im Bereich der bildenden Künste". Daher konnte das Gericht auf die Entscheidung verzichten, ob die beanstandeten Bilder das Ergebnis "künstlerischer Ideen waren, zumal die Absicht eine Sache und die Realisierung des Themas eine andere war".
Wie das Gericht stellte auch das Berufungsgericht fest, dass die Bilder von Josef Felix Müller"Abscheu und Ekel" hervorgerufen haben:
"Das sind keine Werke, die bei der Behandlung eines bestimmten Themas oder einer bestimmten Szene mehr oder weniger diskret auf sexuelle Aktivitäten anspielen. Sie stellen sie in den Vordergrund und stellen sie nicht in der Umarmung von Mann und Frau dar, sondern in vulgären Bildern der Sodomie, Fellatio zwischen Männern, Bestialität, erigierten Penissen und Masturbation. Sexuelle Aktivität ist der wichtigste, um nicht zu sagen der alleinige Bestandteil aller drei Gemälde und weder die Erklärungen der Beschwerdeführer noch die vom Zeugen Ammann gelehrt scheinenden, aber nicht überzeugenden Bemerkungen können daran etwas ändern. Um ins Detail zu gehen, so geschmacklos es auch sein mag, …
Schließlich sollte darauf hingewiesen werden, dass die Gemälde groß sind ... mit dem Ergebnis, dass ihre Rohheit und Vulgarität umso anstößiger wirkt.
Auch die Behauptung der Rechtsmittelführerinnen, die Gemälde seien symbolisch, überzeugt das Gericht nicht. Was zählt, ist der präsentierte Inhalt und seine Wirkung auf den Betrachter, nicht irgendeine Abstraktion, die mit dem sichtbaren Bild überhaupt nichts zu tun hat oder es beschönigt. Darüber hinaus ist das Wichtigste nicht die vom Künstler dem Gemäde beigemessene Bedeutung, sondern die objektive Wirkung des Bildes auf den Betrachter ... .
Nicht viele Argumente im Rechtsmittel waren auf die Fragen der Absicht oder des Bewusstseins der Unzüchtigkeit gerichtet, sie hätten auch wenig genützt. Insbesondere ist sich ein Autor der Unzüchtigkeit einer Veröffentlichung bewusst, wenn er weiß, dass sie sich mit sexuellen Angelegenheiten befasst, und dass jede schriftliche oder bildliche Anspielung auf solche Angelegenheiten im Lichte allgemein akzeptierter Ansichten geeignet ist, das natürliche Gefühl des Anstands des durchschnittlichen Lesers oder Beobachters grob zu beleidigen. Das war hier eindeutig so, wie die Beweise in der Verhandlung bestätigten. ... Tatsächlich gaben mehrere der Angeklagten zu, dass die Bilder sie schockiert hätten. Es sollte angemerkt werden, dass sogar jemand, der für Obszönität unempfindlich ist, in der Lage ist zu erkennen, dass er andere stören kann. Wie das Gericht ausführte, handelten die Angeklagten zumindest leichtfertig.
Schließlich ist es unerheblich, dass ähnliche Werke angeblich anderswo ausgestellt wurden; die drei in Rede stehenden Gemälde hören deswegen nict auf, unzüchtig zu sein, wie das Gericht I. Instanz zu Recht erkannt hat..."
17 Am 18.06.1982 reichten die Bf beim Bundesgerichtshof Nichtigkeitsbeschwerde ein. Sie beantragten, das Urteil vom 26. April aufzuheben und den Fall im Hinblick auf ihren Freispruch zurückzuziehen und die Rückgabe der beschlagnahmten Gemälde, hilfsweise nur die Rückgabe der Gemälde.
Das Freiburger Kantonsgericht habe Artikel 204 des Strafgesetzbuches falsch ausgelegt; insbesondere habe es den Anwendungsbereich der Kunstfreiheit, die ua in Art 10 der Konvention gewährleistet sei, nicht berücksichtigt. Herr Ammann, einer der renommiertesten Experten für moderne Kunst, hatte bestätigt, dass es sich um bedeutende Werke handelte. Ähnliche Bilder von Josef Felix Müller waren übrigens im Februar 1982 ausgestellt worden, und es war niemandem eingefallen, sie als unzüchtig zu betrachten.
Was die "Veröffentlichung" unzüchtiger Gegenstände betrifft, die nach Artikel 204 des Strafgesetzbuches verboten sei, so ist dies ein relativer Begriff. Es sollte möglich sein, in einer Ausstellung Bilder zu zeigen, die, wenn sie auf dem Marktplatz ausgestellt würden, gegen Artikel 204 verstoßen würden; Kunstinteressierte sollten die Möglichkeit haben, sich mit allen Trends der zeitgenössischen Kunst vertraut zu machen. Besucher einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst wie "Fri-Art 81" sollten mit modernen Werken rechnen, die unverständlich sein könnten. Wenn sie die Gemälde nicht mochten, stand es ihnen frei, wegzuschauen und vorbeizugehen; der Schutz des Strafrechts ist daher nicht erforderlich. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, indirekte Zensur der Kunst vorzunehmen. Bei einer strikten Auslegung von Artikel 204 - dh einer, die es unter Berücksichtigung der Kunstfreiheit den Kunstliebhabern überlässt, selbst zu entscheiden, was sie sehen wollten -, sollten die Bf. freigesprochen werden.
Die Beschlagnahme der streitigen Gemälde könne nur angeordnet werden, wenn sie eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellten, so dass ihre Rückgabe nicht gerechtfertigt werden könne - und dies sei eine Angelegenheit, die das Kassationsgericht nicht geprüft habe. Da die Bilder zehn Tage lang öffentlich zu sehen waren, ohne Proteste hervorzurufen, war schwer zu erkennen, wie eine solche Gefahr bestehen sollte. Josef Felix Müller würde seine Bilder in Freiburg in naher Zukunft sicher nicht zeigen. Andererseits konnten sie anderswo problemlos gezeigt werden, wie seine Ausstellung im Februar 1982 in Basel bewies. Es war daher in keinem Verhältnis, ihm die Gemälde zu entziehen.
18. Der Bundesgerichtshof wies die Beschwerde am 26.01.1983 aus folgenden Gründen ab:
"Die entschiedenen Fälle zeigen, dass im Sinne von Artikel 204 des Strafgesetzbuches jeder Gegenstand unzüchtig ist, der in einer schwer zu billigenden Weise das Gefühl des sexuellen Anstands verletzt; die Wirkung der Unzüchtigkeit kann sein, eine normale Person sexuell zu stimulieren oder sie zu ekeln oder abzustoßen. ... Die vom Gericht anzuwendende Prüfung fragt, ob der Gesamteindruck des Gegenstands oder der Arbeit bei einer Person von gewöhnlicher Empfindlichkeit zu einem sittlichen Ärgernis führt
Die Gemälde zeigen eine Orgie unnatürlicher sexueller Praktiken (Sodomie, Bestialität, Petting), die grob im Großformat dargestellt ist; sie sind stark geeignet, das Gefühl des sexuellen Anstands von Personen mit gewöhnlicher Empfindlichkeit zu stören. Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte künstlerische Freiheit kann diese Schlussfolgerung im vorliegenden Fall in keiner Weise ändern.
Inhalt und Umfang der verfassungsmäßigen Freiheiten werden auf der Grundlage des derzeit geltenden Bundesrechts festgelegt. Dies gilt unter anderem für die Pressefreiheit, die Meinungs- und die künstlerische Freiheit; nach Artikel 113 [Bundesverfassung] ist der Bundesgerichtshof an Bundesgesetze gebunden ... Im Bereich des künstlerischen Schaffens hat er festgestellt, dass Kunstwerke per se keinen besonderen Status genießen ... Ein Kunstwerk ist jedoch nicht unzüchtig, wenn der Künstler es versteht, Themen sexueller Natur durch künstlerische Formgebung so zu präsentieren, dass ihre Anstößigkeit abgeschwächt wird und in den Hintergrund tritt ... Bei seiner Entscheidung muss das Strafgericht das Werk nicht durch die Brille eines Kunstkritikers betrachten, sondern entscheiden, ob das Werk geeignet ist, einen arglosen Besucher zu verletzen.
Das Gutachten über den künstlerischen Wert des betreffenden Werkes ist daher zum jetzigen Zeitpunkt unerheblich, auch wenn es für die Entscheidung, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um neue Straftaten (Vernichtung oder Beschlagnahme des Gegenstands) zu verhindern, von Bedeutung sein könnte; Art. 204 Nr. 3 ...).
Das Kantonsgericht prüfte die Gemälde auf ihr ästhetisch vorherrschendes Element. Unter Berücksichtigung insbesondere der Anzahl der sexuellen Merkmale in jedem der drei (eines davon umfasst zB acht erigierte Glieder) entschied es, dass der Schwerpunkt auf Sexualität in ihren anstößigsten Formen liege und dass dies der vorherrschende, um nicht zu sagen einzige Zweck war. Des Bundesgerichtshof stimmt dem zu. Der Gesamteindruck, den Müllers Bilder erwecken, ist für eine Person von normaler Empfindlichkeit sittlich verletztend. Die Feststellung des Kantonsgerichtes, dass sie unzüchtig seien, verstoße daher nicht gegen Bundesrecht.
Die Rechtsmittelführerinnen behaupteten, dass das Element der Öffentlichkeit der Straftaten fehle. Sie liegen falsch.
Die unzüchtigen Gemälde waren in einer öffentlich zugänglichen Ausstellung zu sehen, die auf Plakaten und in der Presse beworben worden war. Es gab keine Bedingung für den Zutritt zu 'Fri-Art 81', wie zB eine Altersgrenze. Die streitbaren Gemälde wurden somit einer unbestimmten Zahl von Personen zugänglich gemacht, sodass das Kriterium der Öffentlichkeit im Sinne von Artikel 204 erfüllt ist ..."
Schließlich erklärte der des Bundesgerichtshof den Alternativantrag auf Rückgabe der Gemälde für unzulässig, da er vor den Kantonsgerichten nicht gestellt worden war.
19 Am 20.01.1988 gab das Bezirksstrafgericht Saanen einem Antrag von Josef Felix Müller vom 29.06.1987 statt und ordnete die Rückgabe der Bilder an.Das Gericht hielt die weitere Aufrechterhaltung der Beschlagnahme nicht mehr für erforderlich, insbesondere weil nicht mehr angenommen werden müsse, dass der Bf Müller – der in der Zwischenzeit auch mit „anspruchsvolleren“ Werken hervorgetreten sei – diese nochmals ausstellen werde. Da er jetzt einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht habe, dürfte er es nicht mehr nötig haben, durch Vulgarität zu schockieren. Das Gericht bezog sich in seiner Entscheidung ausdrücklich auch auf die in Art 10 garantierte Meinungsäußerungsfreiheit.
Josef Felix Müller hat seine Bilder im März 1988 wieder erhalten.
VI Nationales Recht
II RELEVANTES INNERSTAATLICHES RECHT
20 Art. 204 des Schweizerischen Strafgesetzbuches bestimmt:
Unzüchtige Veröffentlichungen
1 Wer unzüchtige Schriften, Bilder, Filme oder andere unzüchtige Gegenstände herstellt oder vorrätig hält, um damit Handel zu treiben, sie zu verbreiten oder öffentlich auszustellen, wer solche Gegenstände zu den genannten Zwecken einführt, befördert oder ausführt oder sonstwie in Verkehr bringt, wer solche Gegenstände öffentlich oder geheim verkauft, verbreitet, öffentlich ausstellt oder gewerbsmäßig ausleiht, wer, um die verbotene Verbreitung oder den verbotenen Vertrieb zu fördern, ankündigt oder sonstwie bekannt gibt, dass sich eine Person mit den genannten strafbaren Handlungen befasst, wer ankündigt oder bekannt gibt, wie und durch wen die genannten Gegenstände unmittelbar oder mittelbar bezogen werden können, wird mit Gefängnis oder mit Buße bestraft.
2. Wer solche Gegenstände einer Person unter achtzehn Jahren übergibt oder vorzeigt, wird mit Gefängnis oder mit Buße bestraft.
3. Der Richter lässt die unzüchtigen Gegenstände vernichten
Der Bundesgerichtshof hat stets entschieden, dass alle Werke oder Gegenstände als unzüchtig zu qualifizieren sind, wenn sie den sexuellen Anstand in grober Weise verletzen und die Wirkung haben, bei einem normal empfindenden Menschen sexuelle Erregung, Ekel oder abstoßende Gefühle hervorzurufen (Urteile des Bundesgerichtshofs (ATF), Band 83 (1957), Teil VI, S. 19-25; Band 86 (1960), Teil IV, S. 19-25; Band 87 (1961), Teil IV, S. 73-85); Solche Gegenstände einer unbestimmten Anzahl von Personen zur Verfügung zu stellen, läuft auf eine "Veröffentlichung" dieser Elemente hinaus.
21 Der Bundesgerichtshof hat 1963 entschieden, dass es für die Zwecke von Art 204 Abs 3 genügt, einen unzüchtigen Gegenstand von unbestrittenem kulturellem Interesse durch andere Maßnahmen als Vernichtung von der Öffentlichkeit auszuschließen".
Im Urteil vom 10. Mai 1963 in der Rechtssache Rey v. Generalstaatsanwalt des Wallis (ATF Vol. 89 (1963), Teil IV, S. 133-140), entschied der Bundesgerichtshof, "dass der Gesetzgeber bei der Anordnung der Vernichtung nur den gebräuchlichsten Fall, die Veröffentlichung rein pornografischer Gegenstände, in Betracht gezogen habe". Da "Vernichtung im Gegensatz zu einer Bestrafung eine Maßnahme ist", "darf sie nicht über das hinausgehen, was notwendig ist, um das gewünschte Ziel zu erreichen", nämlich "den Schutz der öffentlichen Moral". Das Gericht erklärte weiter:
"Mit anderen Worten, 'Vernichtung', wie in Art. 204 Abs 3 des Strafgesetzbuches vorgeschrieben, muss die öffentliche Moral schützen, hat aber nicht weiter zu gehen, als diese Anforderung rechtfertigt.
Im gebräuchlichsten Fall, dem von pornografischen Veröffentlichungen ohne künstlerische, literarische oder wissenschaftliche Verdienste, wird die Vernichtung physisch und unumkehrbar sein, nicht nur wegen des Mangels an kulturellem Wert, sondern auch, weil dies im Allgemeinen der einzig angemessene Weg ist, die Öffentlichkeit letztlich vor der Gefahr der beschlagnahmten Gegenstände zu schützen ... .
Ganz anders ist es, wenn es, wie im vorliegenden Fall, um ein unersetzliches Kunstwerk geht. Dann kommt es zum Konflikt zweier gegensätzlicher Interessen, die beide für die Zivilisation wichtig sind, zu der die Schweiz gehört: das moralische und das kulturelle Interesse. In einem solchen Fall müssen der Gesetzgeber und die Gerichte einen Weg finden, beides miteinander in Einklang zu bringen. Dieses Gericht hat daher bei der Anwendung von Artikel 204 entschieden, daß stets zu bedenken ist, daß selbst wenn die künstlerische Kreativität bestimmten Zwängen der öffentlichen Moral unterliegt, es dennoch künstlerische Freiheit geben muß ... .
Es ist daher Sache der Gerichte, in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu prüfen, ob die physische Vernichtung notwendig ist oder ob eine mildere Maßnahme ausreicht. Das zwingende Erfordernis des Artikels 204 Absatz 3 wird daher eingehalten, wenn die Gerichte anordnen, dass ein unzüchtiger Gegenstand ohne jeglichen kulturellen Wert physisch vernichtet wird, und in Bezug auf einen Gegenstand von unbestrittenem kulturellem Interesse, wenn wirksame Maßnahmen ergriffen werden, um ihn der breiten Öffentlichkeit vorzuenthalten und nur einer begrenzten Anzahl ernsthafter Spezialisten zugänglich zu machen ... .
Wenn solche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, gilt Artikel 204 des Strafgesetzbuches nicht für Gegenstände, die von Natur aus unzüchtig, aber von echtem kulturellen Interesse sind. Es muss auch zwischen solchen Gegenständen und reiner Pornografie unterschieden werden. Das kulturelle Interesse eines Gegenstandes hindert ihn zwar nicht daran, unzüchtig zu sein. Es erfordert jedoch, dass die Gerichte mit besonderer Sorgfalt entscheiden, welche Schritte unternommen werden müssen, um den allgemeinen Zugang zu diesem Gegenstand zu verhindern, während er einer genau definierten Anzahl von seriösen Kennern zur Verfügung gestellt wird; dies entspricht den Anforderungen des Artikels 204 Abs 3 des Strafgesetzbuches, der, wie gezeigt wurde, die Vernichtung obligatorisch macht, aber nur als Maßnahme, deren Wirkungen im Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen müssen ..."
Dieser besondere Fall betraf sieben Elfenbeinreliefs und dreißig Drucke antiker japanischer Kunst; das Gericht stellte fest, dass die Anforderung, sie zu "vernichten", erfüllt wurde, indem sie in einem Museum platziert wurden.
22 Vor der Entscheidung des Bezirksstrafgerichts Saanen (siehe oben, Randnr. 19) hatte das Berufungsgericht Basel-Stadt bereits eine Einziehungsentscheidung nach dem Strafgesetzbuch erlassen. In einem Urteil vom 29.08.1980 erließ das Berufungsgericht einen Beschluss auf Wiederherstellung eines 1960 beschlagnahmten Gemäldes an die Erben des Malers Kurt Fahrner, nachdem er wegen eines Verstoßes gegen die Religionsfreiheit verurteilt worden war (Art 261 des Strafgesetzbuches).
Das Berufungsgericht stellte ua fest, dass eine solche Maßnahme als Einziehung "immer in die Eigentumsrechte des Betroffenen eingreift, eine gewisse Zurückhaltung erfordert und dass eine solche Maßnahme nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht weiter gehen darf, als für die Wahrung der Sicherheit unerlässlich ist". …
VII Verfahren vor der Kommission
23 Die Bf haben die Kommission am 22.07.1983 (Beschwerde Nr. 10737/84) angerufen. Gestützt auf Art 10 der Konvention rügen sie ihre strafrechtliche Verurteilung zu einer Geldstrafe [von jeweils 300,– SFr.] (im Folgenden die „Verurteilung“) sowie die Beschlagnahme der umstrittenen Bilder.
24 Die Kommission erklärte die Beschwerde am 06.12.1985 für zulässig. In ihrem Bericht vom 08.10.1986 (Art 31) gelangt sie zu dem Ergebnis, dass im Hinblick auf die Beschlagnahme der Gemälde eine Verletzung von Art 10 vorliegt (elf Stimmen gegen drei), dass jedoch durch die Verurteilung die Konvention nicht verletzt worden ist (einstimmig).
VIII Rechtliche Beurteilung des Höchstgerichtes
25 In der mündlichen Verhandlung am 25. Januar 1988 beantragt die Regierung wie zuvor in ihrer schriftlichen Stellungnahme, der Gerichtshof möge „befinden, dass keine Verletzung von Art 10 der Konvention vorliegt, und zwar weder im Hinblick auf die Verurteilung der Bf noch im Hinblick auf die verhängte Geldstrafe noch im Hinblick auf die Beschlagnahme der Gemälde des ersten Bf“.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
26 Die Bf behaupten, dass ihre Verurteilung und die Beschlagnahme der fraglichen Gemälde Art 10 der Konvention verletzt, der wie folgt lautet:
„1. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.“
Die Regierung weist diese Behauptung zurück. Die Kommission weist sie ebenfalls im Hinblick auf die erste umstrittene Maßnahme [Verurteilung] zurück, stimmt ihr aber hinsichtlich der zweiten Maßnahme [Beschlagnahme] zu
27 Die Bf haben unzweifelhaft von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht – der erste Bf, indem er die fraglichen Werke gemalt und sodann ausgestellt hat, und die neun anderen, indem sie ihm die Gelegenheit gaben, sie auf der von ihnen veranstalteten Ausstellung „Fri-Art 81“ öffentlich zu zeigen. Zwar führt Art 10 die Freiheit künstlerischer Äußerung, um die es hier geht, nicht ausdrücklich an; dieser Artikel unterscheidet aber andererseits auch nicht zwischen den verschiedenen Formen der Meinungsäußerung. Wie alle vor dem Gerichtshof auftretenden Verfahrensbeteiligten anerkennen, schließt er die Freiheit der künstlerischen Äußerung ein – namentlich im Rahmen der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen –, welche die Möglichkeit verbürgt, am öffentlichen Austausch von kulturellen, politischen und sozialen Informationen und Ideen aller Art teilzuhaben. Wenn für die Richtigkeit dieser Interpretation überhaupt eine Bestätigung notwendig ist, findet sich diese in Art 10 Abs 1 Satz 2, der sich auf „Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen“ bezieht, also auf Massenmedien, deren Aktivitäten sich auf den Bereich der Kunst erstrecken. Eine Bestätigung dafür, dass das Konzept der Meinungsäußerungsfreiheit die künstlerische Äußerung einschließt, findet sich auch in Art 19 Abs. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit ausdrücklich Informationen und Ideen in der Form von „Kunstwerken“ einbezieht
28 Die Bf haben ersichtlich „behördliche Eingriffe“ in die Ausübung ihrer Meinungsäußerungsfreiheit erlitten – einerseits wegen ihrer Verurteilung durch das Strafgericht des Bezirks Saanen vom 24..02.1982, die vom Kantonsgericht Fribourg am 26.04.1982 und vom Schweizerischen Bundesgericht am 26.01.1983 bestätigt wurde (s.o. Ziff. 14, 16 und 18), und andererseits wegen der Beschlagnahme der Gemälde, die gleichzeitig angeordnet, in der Folge aber wieder aufgehoben wurde (s.o. Ziff. 19). Derartige Maßnahmen, die „Strafdrohungen“ oder „Einschränkungen“ darstellen, widersprechen der Konvention nicht schon allein deshalb, weil sie in die Meinungsäußerungsfreiheit eingreifen, da die Ausübung dieses Rechts unter den in Abs 2 enthaltenen Bedingungen eingeschränkt werden kann. Dementsprechend würden die zwei gerügten Maßnahmen Art 10 nicht verletzt haben, wenn sie „gesetzlich vorgesehen“, einem oder mehreren der gemäß Art 10 Abs. 2 rechtmäßigen Zweck gedient hätten und zur Erreichung dieses oder dieser Zwecke „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen wären. Wie die Kommission wird der Gerichtshof der Reihe nach die Verurteilung der Bf. und die Beschlagnahme der Gemälde unter diesen Gesichtspunkten prüfen
I. DIE VERURTEILUNG DER BF
1. "Gesetzlich vorgeschrieben"
29 Nach Auffassung der Bf. wären die Begriffe des Art 204 Ziff 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuches, insbesondere das Wort „unzüchtig“ zu vage, um es dem Einzelnen zu ermöglichen, sein Verhalten danach einzurichten; dementsprechend hätten weder der Künstler noch die Veranstalter der Ausstellung vorhersehen können, dass sie eine Gesetzesübertretung begehen. Regierung und Kommission teilen diese Ansicht nicht.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die „Vorhersehbarkeit“ eines der Erfordernisse, das in der Formulierung „gesetzlich vorgesehen“ in Art 10 Abs 2 angelegt ist. Eine Norm kann nicht als ein „Gesetz“ angesehen werden, wenn sie nicht mit hinreichender Bestimmtheit abgefasst wurde, um den Einzelnen – gegebenenfalls aufgrund entsprechender Beratung – in die Lage zu versetzen, in einem den Umständen entsprechenden Maß vorherzusehen, welche Konsequenzen ein bestimmtes Handeln nach sich ziehen kann (Urteil Olsson vom 24. März 1988, Série A Nr. 130, S. 30, Ziff. 61 a), EGMR-E 4, 32). Der Gerichtshof hat jedoch bereits früher die Unmöglichkeit betont, bei der Formulierung von Gesetzen absolute Bestimmtheit zu erreichen, vor allem in Bereichen, in denen die Situation sich entsprechend den herrschenden gesellschaftlichen Anschauungen verändert (Urteil Barthold vom 25. März 1985, Série A Nr. 90, S. 22, Ziff. 47, EGMR-E 3, 27). Um exzessive Starrheit zu vermeiden und sich dem Wandel der Verhältnisse anzupassen, werden in vielen Gesetzen unausweichlich Begriffe verwendet, die mehr oder weniger vage sind (s. vorzitiertes Urteil Olsson, ebd.). Strafbestimmungen wegen Unzüchtigkeit gehören zu dieser Kategorie.
Im vorliegenden Fall ist ferner festzuhalten, dass es zahlreiche übereinstimmende Entscheidungen des Bundesgerichts zur „Veröffentlichung“ von „unzüchtigem“ Material gab (s.o. Ziff. 20). Diese Entscheidungen, die veröffentlicht und damit zugänglich waren und die von den nachgeordneten Gerichten befolgt wurden, ergänzten den Wortlaut des Art 204 Ziff 1 StGB. Die Verurteilung der Bf war daher i.S.v. Art 10 Abs 2 „gesetzlich vorgesehen“.
2. Die Rechtmäßigkeit des verfolgten Ziels
30 Die Regierung trägt vor, das Ziel des gerügten Eingriffs sei gewesen, die Moral und die Rechte anderer zu schützen. Hinsichtlich des letzten Punktes bezog sie sich in erster Linie auf die Reaktionen eines Familienvaters und seiner Tochter, welche die „Fri-Art 81“- Ausstellung besucht hatten (s.o. Ziff. 12). Der Gerichtshof teilt die Ansicht, dass Art 204 des Schweizerischen Strafgesetzbuches dem Schutz der öffentlichen Moral dienen soll; es gibt keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass die Schweizer Gerichte bei seiner Anwendung auf den vorliegenden Fall irgendwelche anderen Zielsetzungen verfolgt hätten, die mit der Konvention nicht vereinbar gewesen wären. Darüber hinaus gibt es, wie die Kommission aufgezeigt hat, eine natürliche Verbindung zwischen dem Schutz der Moral und dem Schutz der Rechte anderer. Dementsprechend verfolgte die Verurteilung der Bf ein nach Art 10 Abs 2 rechtmäßiges Ziel
3. „Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“
31 Die Darlegungen der Verfahrensbeteiligten vor dem Gerichtshof konzentrieren sich auf die Frage, ob der fragliche Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, um das genannte Ziel zu erreichen.
Nach Auffassung der Bf ist die Freiheit der künstlerischen Äußerung von einer so fundamentalen Bedeutung, dass das Verbot eines Werkes oder die Verurteilung eines Künstlers wegen eines Werkes den Wesensgehalt des in Art 10 garantierten Rechts treffen würde und für eine demokratische Gesellschaft schädliche Folgen hätte. Zweifellos würden die umstrittenen Gemälde eine Vorstellung von Sexualität widerspiegeln, die der gegenwärtig herrschenden Sexualmoral zuwiderlaufe, doch hätte nach Auffassung der Bf ihre symbolische Bedeutung berücksichtigt werden müssen, weil es sich um Kunstwerke handele. Die Freiheit der künstlerischen Äußerung würde ihres Sinngehalts entleert, wenn Gemälde wie die des Bf Müller nicht einem an Kunst interessierten Publikum im Rahmen einer Ausstellung über experimentelle Gegenwartskunst gezeigt werden könnten. Nach Auffassung der Regierung war der Eingriff hingegen notwendig, insbesondere wenn der Hauptinhalt der Gemälde und die besonderen Umstände, unter denen sie ausgestellt worden waren, berücksichtigt werden. Aus ähnlichen Gründen und unabhängig von irgendeiner Bewertung des künstlerischen oder symbolischen Werts war die Kommission der Auffassung, dass die Schweizer Gerichte die Gemälde mit gutem Grund für unzüchtig halten konnten und dass sie berechtigt waren, die Bf eines Vergehens nach Art 204 StGB für schuldig zu befinden.
32 Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass das Adjektiv „notwendig“ in Art 10 Abs 2 auf das Vorliegen eines „zwingenden gesellschaftlichen Bedürfnisses“ verweist (s. zuletzt Urteil Lingens vom 8. Juli 1986, Série A Nr. 103, S. 25, Ziff. 39, EGMR-E 3, 230 f.). Die Vertragsstaaten haben bei der Entscheidung über die Frage, ob eine solche Notwendigkeit besteht, einen gewissen Beurteilungsspielraum (marge d’appréciation / margin of appreciation), der jedoch von einer europäischen Kontrolle begleitet ist, Gesetze und die diese Gesetze anwendenden Entscheidungen umfasst, selbst wenn die Entscheidungen von einem unabhängigen Gericht kommen (ebd.). Der Gerichtshof ist daher zuständig, eine abschließende Entscheidung darüber zu treffen, ob eine „Einschränkung“ oder „Strafdrohung“ mit der von Art 10 gewährleisteten Meinungsäußerungsfreiheit vereinbar ist (ebd.). Bei der Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion kann sich der Gerichtshof nicht auf eine isolierte Betrachtung der gerügten Gerichtsentscheidungen beschränken. Er hat diese Entscheidungen im Lichte der Gesamtsituation des Falles einschließlich der fraglichen Gemälde und der Umstände, unter denen sie ausgestellt wurden, zu prüfen. Dem Gerichtshof obliegt es festzustellen, ob der gerügte Eingriff „in Bezug auf das damit verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig“ ist und ob die in diesem Zusammenhang von den Schweizer Gerichten zu ihrer Rechtfertigung angeführten Gründe „erheblich und ausreichend“ waren (s. vorzitiertes Urteil Lingens, a.a.O., S. 26, Ziff. 40, EGMR-E 3, 231).
33 In diesem Zusammenhang muss der Gerichtshof wiederholen, dass die Freiheit der Meinungsäußerung, wie sie in Art 10 Abs 1 verankert ist, einen der Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft darstellt, eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Entfaltung eines jeden Einzelnen. Vorbehaltlich der Bestimmung des Art 10 Abs 2 gilt dieses Recht nicht nur für die günstig aufgenommenen oder als unschädlich oder unwichtig angesehenen „Informationen“ oder „Ideen“, sondern auch für die, welche den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen. So wollen es Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es eine „demokratische Gesellschaft“ nicht gibt (s. Urteil Handyside vom 7. Dezember 1976, Série A Nr. 24, S. 23, Ziff. 49, EGMR-E 1, 223). Wer Kunstwerke schafft, interpretiert, verbreitet oder ausstellt, trägt zum Austausch von Ideen und Meinungen bei, der für eine demokratische Gesellschaft wesentlich ist. Deshalb ist es eine Verpflichtung des Staates, deren Meinungsäußerungsfreiheit nicht unangemessen zu beeinträchtigen.
34 Künstler und diejenigen, die ihr Werk fördern, sind von den Beschränkungen, wie sie in Art 10 Abs 2 vorgesehen sind, gewiss nicht ausgenommen. Wer immer diese Freiheit wahrnimmt, hat in Übereinstimmung mit der ausdrücklichen Formulierung dieses Absatzes „Pflichten und Verantwortung“; deren Reichweite hängt von seiner Lage und von den von ihm eingesetzten Mitteln ab (s. sinngemäß vorzitiertes Urteil Handyside, a.a.O., S. 23, Ziff. 49, EGMR-E 1, 224). Bei der Beurteilung der Frage, ob die Strafe „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, darf der Gerichtshof diesen Aspekt nicht übersehen.
35 Die Verurteilung der Bf auf der Grundlage von Art 204 StGB sollte die Moral schützen. Es ist heute wie zur Zeit des Urteils Handyside [1976] (a.a.O., S. 22, Ziff. 48, EGMR-E 1, 222) nicht möglich, der rechtlichen und sozialen Ordnung der verschiedenen Vertragsstaaten einen einheitlichen europäischen Moralbegriff zu entnehmen. Die Vorstellungen von den Anforderungen der Moral, unterscheiden sich je nach Zeit und Ort, vor allem in unserer Epoche, die durch einen tiefgreifenden Wandel der Auffassungen auf diesem Gebiet gekennzeichnet ist. Dank ihres direkten und ständigen Kontakts zu den in ihren Ländern wirkenden Kräften sind die staatlichen Behörden grundsätzlich besser in der Lage als der internationale Richter, sich zum genauen Inhalt dieser Anforderungen zu äußern sowie zur „Notwendigkeit“ einer „Einschränkung“ oder „Strafdrohung“, die dazu bestimmt ist, jenen Anforderungen zu entsprechen.
36 Im vorliegenden Fall muss betont werden, dass – wie die Schweizer Gerichte sowohl auf kantonaler Ebene in der ersten Instanz und in der Berufungsinstanz als auch auf der Bundesebene festgehalten haben – die fraglichen Gemälde sexuelle Beziehungen vor allem zwischen Männern und Tieren in einer rohen Art darstellen (s.o. Ziff. 14, 16 und 18). Sie wurden entsprechend dem Ziel der Ausstellung, die als spontane Aktion geplant war, an Ort und Stelle gemalt; die Öffentlichkeit hatte freien Zugang zu ihnen, weil die Organisatoren weder Eintrittsgebühren noch eine Altersbeschränkung festgelegt hatten. Tatsächlich wurden die Gemälde in einer Ausstellung präsentiert, die einem großen Publikum ohne Einschränkung zugänglich war und dieses auch anziehen sollte.
Der Gerichtshof anerkennt – wie auch die Schweizer Gerichte –, dass sich die Auffassungen zur Sexualmoral in den letzten Jahren geändert haben. Trotzdem hält der Gerichtshof, nachdem er die Originalgemälde in Augenschein genommen hat [vor Beginn der mündlichen Verhandlung, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, jedoch in Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten], den Standpunkt der Schweizer Gerichte nicht für unangemessen, dass nämlich diese Gemälde mit ihrer Betonung der Sexualität in einigen ihrer gröbsten Formen „das sexuelle Anstandsgefühl normal empfindender Menschen verletzen konnten“ (s.o. Ziff. 18). Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung des ihnen durch Art 10 Abs 2 eingeräumten Beurteilungsspielraums (marge d’appréciation / margin of appreciation) waren die Schweizer Gerichte berechtigt, die Verhängung einer Strafe über die Bf wegen Veröffentlichung unzüchtigen Materials als zum Schutze der Moral „notwendig“ anzusehen. Die Bf machen geltend, dass die Ausstellung der Gemälde keine öffentliche Empörung ausgelöst hatte; tatsächlich war die Presse ganz auf ihrer Seite. Es mag auch zutreffen, dass der Bf Müller ähnliche Werke in anderen Teilen der Schweiz und im Ausland ausstellen konnte, und zwar sowohl vor wie auch nach der Ausstellung „Fri-Art 81“ (s.o. Ziff. 9). Daraus kann indessen nicht abgeleitet werden, dass die Verurteilung der Bf in Fribourg unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles nicht einem echten gesellschaftlichen Bedürfnis entsprochen hätte, wie es im Wesentlichen durch alle drei mit dem Fall befassten Schweizer Gerichte bestätigt wurde.
37 Im Ergebnis hat daher die fragliche Maßnahme Art. 10 nicht verletzt.
II. DIE BESCHLAGNAHME DER GEMÄLDE
1. "Gesetzlich vorgeschrieben"
38 Nach Auffassung der Bf war die Beschlagnahme der Gemälde nicht „gesetzlich vorgesehen“, weil sie dem klaren und eindeutigen Wortlaut des Art 204 Ziff 3 Schweizer Strafgesetzbuch widersprochen habe, in dem vorgeschrieben ist, dass Gegenstände, die als unzüchtig qualifiziert werden, zu vernichten sind. Die Regierung und die Kommission beziehen sich mit Recht auf die mit der Entscheidung des Bundesgerichts im Fall Rey vom 10. Mai 1963 eingeleitete Entwicklung der Schweizer Rechtsprechung zu dieser Bestimmung; seit damals wurde es zur Erfüllung der Erfordernisse des Art 204 Ziff 3 StGB als ausreichend angesehen, wenn bei einem unzüchtigen Gegenstand von kulturellem Interesse, der schwer oder überhaupt nicht ersetzt werden kann, das Gericht jene Maßnahme anordnet, die ihm geeignet erscheint, um den Gegenstand der Öffentlichkeit zu entziehen (s.o. Ziff. 21). Seit 1982 geht die einschlägige Rechtsprechung davon aus, dass die Beschlagnahme in der Regel diesem Zweck dienen kann. Diese der Öffentlichkeit zugängliche und von den unteren Gerichten befolgte Rechtsprechung hat die Strenge des Art 204 Abs 3 gemildert. Daher war die bekämpfte Maßnahme i.S.v. Art. 10 Abs 2 „gesetzlich vorgesehen“.
2. Die Legitimität des verfolgten Ziels
39 Die vor dem Gerichtshof erschienenen Parteien stimmten darin überein, dass die Beschlagnahme der Gemälde dem Schutz der öffentlichen Moral dienen sollte, weil sie jede Wiederholung des den Bf angelasteten Vergehens verhindern sollte. Demzufolge hatte die Maßnahme ein rechtmäßiges Ziel i.S.v. Art 10 Abs 2.
3. "Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft"
40 Auch in diesem Punkt konzentrieren sich die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten vor dem Gerichtshof auf die Frage der „Notwendigkeit“ des Eingriffs. Die Bf halten die Beschlagnahme in Bezug auf das verfolgte Ziel für unverhältnismäßig. Nach ihrer Auffassung hätten die betreffenden Gerichte eine weniger drakonische Maßnahme wählen oder – im Interesse des Schutzes der Menschenrechte – überhaupt von jeder Aktion Abstand nehmen können. Sie behaupten, dass die Behörden von Fribourg durch die Beschlagnahme der Gemälde in Wahrheit ihre eigenen moralischen Vorstellungen dem ganzen Land aufgezwungen hätten; dies sei unakzeptabel, widersprüchlich und laufe der Konvention zuwider, wenn man die bekannten Meinungsverschiedenheiten in dieser Frage berücksichtige. Die Regierung tritt diesen Behauptungen entgegen. Da die Schweizer Gerichte von der drastischen Maßnahme einer Vernichtung der Bilder Abstand genommen haben, hätten sie das mildeste Mittel gewählt. Die am 20.01.1988 verfügte Aufhebung der Beschlagnahmeanordnung, welche der Bf bereits früher hätte beantragen können, zeige deutlich, dass durch die Beschlagnahme das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht verletzt worden sei; es sei vielmehr gerade angewendet worden. Die Kommission hält die Beschlagnahme der Gemälde für unverhältnismäßig in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel. Nach ihrer Auffassung waren die Justizbehörden nicht befugt, die widerstreitenden Interessen abzuwägen und Maßnahmen anzuordnen, die weniger schwerwiegend waren als die Beschlagnahme auf unbestimmte Zeit [s.o. Ziff. 24, Fn. 2]
41 Fest steht ungeachtet des anscheinend engen Wortlauts von Art 204 Ziff 3 StGB, dass ein Gericht, das bestimmte Gegenstände für unzüchtig hält, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts befugt ist, ihre Beschlagnahme statt ihre Vernichtung anzuordnen. Im vorliegenden Fall ist es die Beschlagnahme, die nach Art 10 Abs 2 zu beurteilen ist.
42 Ein den Vertragsstaaten gemeinsames Rechtsprinzip erlaubt die Beschlagnahme von „Gegenständen, deren Gebrauch rechtmäßig als unerlaubt und gefährlich für das Allgemeininteresse beurteilt worden ist (s. sinngemäß vorzitiertes Urteil Handyside, Série A Nr. 24, S. 30, Ziff. 63, EGMR-E 1, 230). Im vorliegenden Fall ging es darum, die Öffentlichkeit vor jeder Wiederholung der Rechtsverletzung zu schützen.
43 Die Verurteilung der Bf entsprach einem echten gesellschaftlichen Bedürfnis gemäß Art 10 Abs 2 (s.o. Ziff. 36). Dieselben Gründe, welche diese Maßnahme gerechtfertigt haben, sind nach Ansicht des Gerichtshofes auch auf die gleichzeitige Beschlagnahmeverfügung anwendbar. Wie die Bf und die Kommission zutreffend hervorheben, stellt sich zweifellos ein besonderes Problem, wenn der beschlagnahmte Gegenstand wie hier ein Originalgemälde ist: Der Künstler kann wegen der getroffenen Maßnahme von seinem Werk nicht mehr länger jenen Gebrauch machen, den er zu machen wünscht. So verlor der Bf Müller insbesondere die Möglichkeit, seine Gemälde an Orten auszustellen, an denen die an den Schutz der Moral gestellten Anforderungen weniger streng aufgefasst werden als in Fribourg. Es ist jedoch zu betonen, dass es nach der auf den Fall Fahrner im Jahre 1980 zurückgehenden und in der Folge auch im vorliegenden Fall angewandten Rechtsprechung (s.o. Ziff. 19 und 22) dem Eigentümer eines beschlagnahmten Werkes freisteht, beim entsprechenden kantonalen Gericht die Aufhebung oder Abänderung der Beschlagnahmeverfügung zu beantragen, wenn der fragliche Gegenstand keinerlei Gefahr mehr darstellt oder andere, mildere Mittel ausreichen würden, die Interessen der öffentlichen Moral zu schützen. In seiner Entscheidung vom 20.01.1988 stellte das Strafgericht des Bezirks Saanen fest, dass die ursprüngliche Beschlagnahme „nicht unbeschränkt, sondern lediglich von unbestimmter Dauer war, was Raum ließ für einen Antrag auf neuerliche Prüfung“ (s.o. Ziff. 19). Es gab dem Antrag des Bf Müller statt, weil „die präventive Maßnahme ihre Funktion, sicherzustellen, dass solche Gemälde nicht ohne Vorsichtsmaßnahmen öffentlich ausgestellt würden, erfüllt hat“ (ebd.).
Es ist einzuräumen, dass dem ersten Bf seine Werke fast acht Jahre lang entzogen waren; es gab allerdings nichts, was ihn davon abgehalten hätte, seinen Antrag auf Rückgabe früher zu stellen. Die einschlägige Rechtsprechung des Basler Appellationsgerichts war öffentlich zugänglich; hinzu kommt, dass der Vertreter der Regierung selbst den Bf während der Verhandlung vor der Kommission am 06.12.1985 darauf aufmerksam machte; es ist dem Gerichtshof kein Anhaltspunkt ersichtlich, dass ein solcher Antrag erfolglos geblieben wäre. Deshalb sowie unter Berücksichtigung des ihnen eingeräumten Beurteilungsspielraums waren die Schweizer Gerichte berechtigt, die Beschlagnahme der fraglichen Gemälde als „notwendig“ zum Schutze der Moral anzusehen.
44 Im Ergebnis hat daher die fragliche Maßnahme Art 10 nicht verletzt.
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof
1. mit sechs Stimmen gegen eine, dass die Verurteilung der Bf Art 10 der Konvention nicht verletzt hat;
2. mit fünf Stimmen gegen zwei, dass die Beschlagnahme der Gemälde Art 10 nicht verletzt hat.
IX Kommentare
Kommentar der Lehre
The online Global Database of Freedom of Expression Case Law Global Frreedom of Expression der Columbia University nimmt den Fall Müller v Switzerland in deren Entscheidungssammlung auf und sieht ein gemischtes Ergebnis (mixed outcome):
The application of the margin of appreciation with regards to obscenity is a very delicate balance on the local acceptance of what is considered obscene. The local courts have the capacity to evaluate and assess the suitability for the local society regarding the acceptance and the impact of the expression. The ECtHR is tasked with analyzing the legitimacy of the interference, while simultaneously deciding if the actions taken are proportionate.
Die Anwendung des Ermessensspielraums in Bezug auf Obszönität ist eine sehr heikle Abwägung dessen, was national als obszön angesehen wird. Die nationalen Gerichte können die Angemessenheit einer Äußerung in punkto Zustimmung und Wirkung in der Gesellschaft bewerten und beurteilen. Der EGMR hat die Aufgabe, die Rechtmäßigkeit des Eingriffs zu analysieren und gleichzeitig zu entscheiden, ob die ergriffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind.
Favorartis Kommentar
In seiner abweichenden Meinung (dass die Verurteilung der Bf Art 10 der Konvention doch verletzt habe) drückt Richter Spielmann ua durch den Hinweis auf den Prozess von 1857 gegen Charles Baudelaire wegen des Verstosses gegen die öffentliche Moral durch die Veröffentlichung des Gedichtbandes Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen) aus, dass (Zitat):
es zahlreiche Beispiele in der Presse, in der Literatur und in der Malerei gibt, die uns lehren sollten, in diesem Bereich vorsichtiger zu sein. Die Meinungsfreiheit ist die Regel, und die Einmischungen des Staates, die ordnungsgemäß gerechtfertigt sind, müssen die Ausnahme bleiben. Er verweist darauf, dassder Pariser Kassationsgerichtshof am 31.05.1949 auf Antrag der Société des gens de lettres in einer Entscheidung in der Sache das Urteil von 1857 gegen Baudelaire aufhob, weil die verbotenen Gedichte keine obszönen oder unanständigen Begriffe enthielten und die Freiheit, die dem Künstler erlaubt ist, nicht überschritten wurde und Baudelaire erst 80 Jahre nach seinem Tod rehabilitiert wurde. Ausserdem fügt er an, dass es in einem aus Staaten zusammengesetzten Europa unannehmbar ist, wenn der betreffende Staat die Beurteilung der Anforderungen von Artikel 10 einem Kanton oder einer Gemeindebehörde überlässt. In diesem Falle wäre es einem internationalen Gericht eindeutig unmöglich, einen Verstoß gegen Artikel 10 festzustellen, da der zweite Absatz dieses Artikels immer anwendbar wäre.
⇒ Favor artis also nur bei einem von sieben Richtern.
X Hinweise zu dieser Webseite
- Im gegenständlichen Fall hat der EGMR grmäß Art 44 Abs 3 EMRK die endgültige Entscheidung zur Aufnahme in die Datenbank HUDOC zur Verfügung gestellt, wo sie (bei Eingabe des Case Title oder der Application Number) zB als Dokument in englischer Sprache abgerufen werden kann..
- Im gegenständlichen Fall hat der N.P. Engel Verlag eine (Zusammen-) Fassung der Entscheidung in deutscher Übersetzung zur Aufnahme in die Datenbank HUDOC zur Verfügung gestellt, wo sie (bei Eingabe des Case Title oder der Application Number) zB als PDF in deutscher Sprache abgerufen werden kann..
- Der hier zur Verfügung gestellte Text folgt der englischsprachigen Fassung aus der Datenbank HUDOC, da Reproduktionen (und damit auch Übersetzungen) zu Informations- und Bildungszwecken erstellt werden können.
- Die in den Abschnitten I und III bis VIII vor Beginn von Absätzen eingefügten Zahlen 8 bis 44 entsprechen den Randnummern im Urteilstext des EGMR.
- Die angeführten Zitate aus Wkipedia (zum Maler Josef Felix Müller, zum Kurator Michel Ritter und zur Fri Art Kunsthalle) und aus der online Global Database of Freedom of Expression Case Law (mit Quellenangaben) erfolgen im angeführten Umfang zur Erläuterung des Inhaltes der Webseite.
- Personenbezogene Daten,die über die Veröffentlichung der Entscheidung hinausgehen, ergeben sich aus dem Bekanntheitsgrad der angeführten Personen.