Zetteldichter

VfGH 11.12.1998 B 339/17

I Kunstwerk

1.1.  Der Beschwerdeführer bezeichnet sich selbst als Wiener Zetteldichter, der seine Literatur zum Pflücken an allgemein zugänglichen, stark frequentierten Orten anbringt, um sie so einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Anbringung  der Zettelgedichte erfolgt in der Form, daß einseitig klebende Bänder, an denen später die Pflückgedichte  des  Beschwerdeführers angebracht werden, zwischen zwei Säulen gespannt werden, wobei die Bänder mit der nichtklebenden Seite um die Säulen herumgewunden werden und das Klebeband nur an einigen  wenigen Stellen an der Säule anhaftet. Diese Art der Publikation  sieht der Beschwerdeführer als Teil seiner Kunst.

Informationen zum Künstler und den Kunstwerken in  Wikipedia und in Bohema: Wien zum Pflücken, Juli 2010

II Schlagworte und Leitsätze

  • Verfassungsrecht; Reinhalteverordnung; Gemeinderecht; Verordnung, ortspolizeiliche; - Kunstfreiheit - Satire
  • Pflückgedichte, Anbringen; Gedichte; Zettelgedichte; Zetteldichter, Wiener
  • Denkunmöglichkeit; Missstand, keiner; Reinhaltungsvorschriften, allgemeine; Regelungsinhalt, keiner; Eigentumsrecht, Verletzung
  • Denkunmögliche Anwendung der Wr ReinhalteV auf Anbringen von Pflückgedichten durch den Wiener Zetteldichter
  • Verletzung im Eigentumsrecht durch Bestrafung des Beschwerdeführers wegen Anbringens von Zettelgedichten an allgemein zugänglichen, stark frequentierten Orten mittels Klebebändern infolge denkunmöglicher Annahme eines Mißstandes im Sinne der Wr ReinhalteV 1982;
  • Das Verhalten des Beschwerdeführers in der beschriebenen Art (einseitig klebendes, nur an den Rändern festgemachtes Klebeband) erreicht aber nicht die Qualität eines Mißstandes im Sinne des § 1 Abs 1 und Abs 2 der Wr ReinhalteV 1982. Eine Auslegung des § 1 Abs 1 und Abs 2 der Wr ReinhalteV 1982, die jede Form von Bekleben  strafbar machen würde, ohne auf die Abwehr eines Mißstandes abzustellen, verbietet sich aus verfassungsrechtlicher Sicht.

III Parteien

Beschwerdeführer H*** S*** gegen Land Wien als belangte Behörde

IV Sachverhalt

Siehe die Angaben zum Künstler und zu seinen Kunstwerken unter I bzw 1.1.

V Gang des Verfahrens

1.2. Mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 13. Dezember 1996, Z UVS-06/07/00555/96, wurde der Berufung des Beschwerdeführers gegen das Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien (im folgenden: Magistrat) vom 18. September 1996, Z MBA 20-S 5262/96, wegen Übertretung des § 1 Abs1 und 2 der Verordnung des Magistrates der Stadt Wien vom 13. Mai 1982 betreffend die Reinhaltung von Grundstücken und Baulichkeiten, ABl. der Stadt Wien Nr. 21/1982 in der geltenden Fassung (im folgenden: Reinhalteverordnung 1982), keine Folge gegeben.

1.3. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde rügt der Beschwerdeführer ...die Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Ausübung der Kunstfreiheit und Schutz des Eigentums.

 2.1. § 1 der Reinhalteverordnung 1982 lautet:

"§ 1 (1) Das Verunreinigen von im öffentlichen Gut stehenden Grundstücken, insbesondere der Straßen und Plätze, Gehwege, Unterführungen, Brücken, Straßenböschungen, Gräben und Flußufer sowie von in öffentlichem Eigentum stehenden Einrichtungen (Geländer, Lichtmaste, Schaltkästen usw.) durch Schutt, Erde und Aushubmaterial, Hauskehrricht und sonstige Abfälle aller Art, durch Ausgießen von Flüssigkeiten, durch faulende oder fäulniserregende Substanzen sowie durch Stalljauche oder Unrat ist verboten. (2) Das Verunreinigen von Grundflächen und Einrichtungen im Sinne des Abs1 mit Farbe und sonstigen färbenden Stoffen sowie durch unbefugtes Bekleben ist gleichfalls verboten.  ..."  ...

2.5. Weiters erachtet sich der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Ausübung der Kunstfreiheit gemäß Art17a StGG verletzt. Die belangte Behörde habe die gebotene Interessenabwägung zwischen dem Grundrecht auf Kunstfreiheit und etwaigen anderen grundrechtlich geschützten Rechtspositionen, hier der Unverletzlichkeit des Eigentums, unterlassen. Die verhängte Strafe verletze ihn überdies in seinem Grundrecht auf Schutz des Eigentums.

VI Rechtliche Beurteilung des Höchstgerichtes

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. § 1 Abs 2 der Reinhalteverordnung 1982 verbietet das Verunreinigen von Grundflächen und näher bezeichneter Einrichtungen mit Farbe und sonstigen färbenden Stoffen sowie durch unbefugtes Bekleben. ...

3. Der Beschwerdeführer behauptet weiters, durch den angefochtenen Bescheid in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Unverletzlichkeit des Eigentums und auf Freiheit der Kunst verletzt zu sein.

3.1. Die mit dem angefochtenen Bescheid über den Beschwerdeführer verhängte Geldstrafe greift in sein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Eigentumsfreiheit ein. Dieser Eingriff ist nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10356/1985, 10482/1985, 11650/1988) dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid rechtsgrundlos ergangen ist oder auf einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat, ein Fall, der nur dann vorliegt, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist.

3.2. Indem die belangte Behörde das dem vorliegenden Fall zugrundeliegende Verhalten des Beschwerdeführers dem Tatbestand des § 1 Abs 2 iVm. Abs 1 der Reinhalteverordnung 1982 unterstellt hat, hat sie diese Rechtsvorschriften in denkunmöglicher Weise angewendet:

Die Tatbestände der Reinhalteverordnung 1982 sind im Hinblick auf deren Charakter als ortspolizeiliche Verordnung verfassungskonform dahingehend auszulegen, daß sie ausschließlich der Mißstandsbekämpfung dienen. Nur solche Sachverhalte, die als konkrete Mißstände zu qualifizieren sind, können gemäß Art 118 Abs 6 B-VG Gegenstand einer ortspolizeilichen Verordnung sein. So steht auch der Abs 2 des § 1 der Reinhalteverordnung 1982, auf den sich der angefochtene Bescheid (in Verbindung mit Abs 1) stützt, in einem notwendigen Zusammenhang mit einer beabsichtigten Mißstandsabwehr: Die dort umschriebenen Arten der Verunreinigung sind somit nur dann tatbildlich, wenn sie einen Grad erreichen, der zugleich den Begriff des Mißstandes erfüllt.

Das Verhalten des Beschwerdeführers in der oben unter PunktI.1. beschriebenen Art (einseitig klebendes, nur an den Rändern festgemachtes Klebeband) erreicht aber nicht die Qualität eines Mißstandes im Sinne des § 1 Abs 1 und 2 der Reinhalteverordnung 1982.

Eine Auslegung des §1 Abs 1 und 2 der Reinhalteverordnung 1982, die jede Form von Bekleben  strafbar machen würde, ohne auf die Abwehr eines Mißstandes abzustellen, verbietet sich aus verfassungsrechtlicher Sicht: Allgemeine Vorschriften zur Reinhaltung können in verfassungsrechtlich zulässiger Weise nicht Regelungsinhalt einer ortspolizeilichen Verordnung sein; dies widerspräche ihrer Funktion als subsidiäre spezifische Mißstandsabwehr. Insbesondere stehen kompetenzrechtliche Schranken einer darüber hinausgehenden Interpretation entgegen, weil damit die Grenzen des ortspolizeilichen Verordnungsrechts überschritten würden. Das zugrundeliegende Verhalten des Beschwerdeführers ist daher nicht unter den Tatbestand des § 1 Abs 2 Reinhalteverordnung 1982 zu subsumieren.

3.3. Die belangte Behörde hat daher dem § 1 Abs 1 und 2 der Reinhalteverordnung 1982 einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt und diese Bestimmung damit denkunmöglich angewendet. Der angefochtene Bescheid verletzt den Beschwerdeführer somit in seinem durch Art 5 StGG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums.

4. Der Bescheid war daher aufzuheben. Es erübrigte sich daher, auf weitere geltendgemachte Bedenken einzugehen.

VII Favorartis Kommentar

Auf weitere geltendgemachte Bedenken (Kunstfreiheit) ging der Verfassungsgerichtshof nicht (mehr) ein, weil  der Beschwerdeführer (schon durch die unrechtmäßige Verhängung der Geldstrafe) in seinem durch Art 5 StGG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums verletzt war.    Favor artis für den Zetteldichter daher nicht feststehend !.

12 Jahre nach dieser Entscheidung erwähnt die Wiener Zeitung im Bericht vom 18.02.2010 1109 Anzeigen gegen den Zetteldichhter und 19 Verwaltungsstrafen.

Und last not least: Der österreichische Dokumentarfilm Seethaler: Zetteldichter (Regie: Andrea Figl, Gegenfilm 2012) begleitet Helmut Seethaler, Zetteldichter und Pflückpoet aus Wien bei seiner Arbeit, dem Bekleben und Beschreiben seiner Stadt (und seines Sprachraums) mit Gedichten, dem Diskutieren seiner Gedanken mit seinen LeserInnnen, dem Kampf um seine Tatorte vor Gericht und auf der Straße und zeigt so nebenbei, wie wichtig Eigensinn und Unabhängigkeit in einer immer normierteren Gesellschaft sind.

VIII Hinweise zu dieser Webseite

  1. Der Text der Entscheidung ist dem RIS (Open Government Data) entnommen.
  2. Die angeführten Zitate aus Wikipedia (zum Künstler) und aus der Filmbeschreibung  (mit Quellenangabe) erfolgen im angeführten Umfang zur Erläuterung des Inhaltes der Webseite.
  3. Personenbezogene Daten, die über die Veröffentlichung im RIS hinausgehen, ergeben sich aus dem Bekanntheitsgrad des Künstlers, aus dem Film und aus Medienberichten.

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