I Autorin und Werk
Corpus Delicti: Ein Prozess ist ein Roman der deutschen Schriftstellerin Juli Zeh, der 2009 im Verlag Schöffling & Co. veröffentlicht wurde. Ursprünglich hatte die Autorin Corpus Delicti als Theaterstück im Auftrag der RuhrTriennale geschrieben. Das Stück wurde am 15. September 2007 in Essen uraufgeführt.
Corpus Delicti behandelt die Problematik einer Gesundheitsdiktatur in naher Zukunft am Beispiel einer Herrschaftsform, die einen Unfehlbarkeitsanspruch erhebt. Juli Zeh greift Entwicklungen der heutigen Zeit auf, führt sie weiter und nimmt sie als Grundlage eines Staates, den sie METHODE nennt. Der Roman warnt den Leser vor kritischen Entwicklungen der heutigen Gesellschaft und appelliert an seine Mündigkeit und Eigenverantwortung.
Juli Zeh (* 30. Juni 1974 in Bonn) ist eine deutsche Schriftstellerin, Juristin und ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, die mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde und auch durch ihr gesellschaftlich-politisches Engagement bekannt ist. Zur Biografie siehe Wikipedia.
II Handlung, Thematiken und Interpretation
übernommen aus Wikipedia
Handlung
Die METHODE ist ein Rechtssystem, welches die Grundsätze von Demokratie abgelöst hat und zu einer Gesundheitsdiktatur geworden ist, in der die Gesundheit der Bürger oberste Priorität hat. Dieses System beruht direkt auf der Bereitschaft der Menschen, das biologische Leben zu sichern. Durch vielfältige Überwachungsmaßnahmen gilt die METHODE als unfehlbar. Jeder Mensch in der METHODE sollte sich in körperlicher Bestverfassung befinden. Verstöße werden bestraft.
Die Protagonistin Mia Holl trauert um ihren Bruder Moritz Holl, der sich vor Kurzem im Gefängnis das Leben genommen hat. Moritz Holl war des Mordes angeklagt, mittels eines DNA-Tests für schuldig befunden und verurteilt worden, beteuerte aber bis zuletzt eindringlich seine Unschuld. Die politische Sprengkraft hinter diesem Urteil veranlasst Heinrich Kramer, das Sprachrohr der METHODE, sowie unabhängig von ihm den Rechtsanwalt Lutz Rosentreter zu weiteren Nachforschungen, weshalb beide den Kontakt zu Mia suchen.
Mia Holl verbringt die Tage zurückgezogen in ihrer Wohnung, zusammen mit der „idealen Geliebten“, bei der es sich um eine von Moritz erfundene Person handelt, die dem Andenken an Moritz (in seinem Sinne) dient. Dabei vernachlässigt Mia in ihrem Schmerz die obligatorischen Schlaf- und Ernährungsberichte, ebenso wie das tägliche Sportprogramm, welches ihr von der METHODE vorgeschrieben wird. Als sie nach weiteren Verfehlungen schließlich angeklagt wird, bewirkt Rosentreter, der Mia als Rechtsanwalt vertritt, zunächst bewusst eine Verschärfung der Situation zum Nachteil Mias. In der folgenden Hauptverhandlung kann er jedoch vor größerem Publikum den Fall Moritz Holl aufklären: Durch eine viele Jahre zurückliegende Knochenmarkspende stimmt der genetische Fingerabdruck von Moritz mit dem des Spenders, den Rosentreter als Mörder präsentiert, überein. Mia wird aus der Haft entlassen.
Infolge des Justizskandals äußern sich auch die meisten Medienvertreter, darunter der systemtreue Journalist Würmer, überraschend offen für eine Diskussion über mögliche Reformen. Weiterhin löst sich Mias innerer Konflikt auf, da sie als rationale Naturwissenschaftlerin den positiven DNA-Test als Beweis für die Schuld ihres Bruders anerkannt, aber ebenso ihrem Bruder geglaubt hat. Sie bestellt Kramer zu sich und diktiert ihm ein Pamphlet, in dem sie der METHODE das Vertrauen entzieht. Damit hat sich Mia endgültig für die Seite ihres verstorbenen freigeistigen Bruders und gegen die METHODE entschieden.
Kurz darauf wird Mia Holl als Feindin des Staates festgenommen. Durch fingierte Beweisstücke und eine erpresste Zeugenaussage von Würmer haben die Staatsschützer und Kramer den scheinbaren Nachweis erbracht, dass Mia als Anführerin einer terroristischen Vereinigung einen verheerenden Giftanschlag vorbereitet hat. Der Aufforderung Kramers, ein bereits vorbereitetes Geständnis zu unterschreiben, kommt Mia auch unter Folter nicht nach. Im folgenden Gerichtsprozess wird sie schließlich zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit, dem Pendant zur Todesstrafe, verurteilt. Die Vollstreckung des Urteils wird jedoch in letzter Sekunde gestoppt. Um keine Märtyrerin zu schaffen, wird Mia Holl begnadigt und ein Resozialisierungsprogramm für sie vorbereitet.
Thematiken
Gesundheitswahn: Eine Gesellschaft, die körperliches Wohl mit seelischem gleichstellt und dessen Erlangung als das höchste Ziel ansieht, lässt wenig Raum für Andersdenkende und Menschen, die ihrem Leben eine andere Priorität geben wollen als die größtmögliche Verlängerung ihres irdischen Daseins. Auch erfordert ebendiese Verlängerung der Existenz von jedem Einzelnen große Opfer und Einschränkungen, kann aber nur im Kollektiv erfolgreich sein. So zwingt der allgemeine Gesundheitswahn auch all jene in ein Lebensschema, das dem Ideal nahekommt, ohne Raum für persönliche Freiheiten zu lassen.
Überwachungsstaat: Der gläserne Bürger als Ideal eines totalen Überwachungsstaates birgt in sich viele Probleme. Die Weitergabe personenbezogener Daten an den Staat und das Gesetz macht einen schutzlos. Die psychische Belastung und der ständige Leistungsdruck (zu erfüllendes Sportprogramm, notwendige einwandfreie Blutwerte etc.) können zu ernsthaften seelischen Störungen führen, deren Behandlung langwierig ist. Die persönliche Freiheit tritt völlig in den Hintergrund und wird bedeutungslos, was auch den Wert eines Einzelnen als Individuum minimiert. Wichtig ist nicht, durch welche Charaktereigenschaften sich ein Mensch auszeichnet und dass er seinen Möglichkeiten entsprechend erfolgreich ist, sondern dass alle sein Leben betreffenden Fakten sicher geordnet und tadellos sind.
Kritik am DNA-Verfahren: Ich entziehe einer METHODE das Vertrauen, die lieber der DNA eines Menschen als seinen Worten glaubt. So schreibt Mia Holl in einem Kapitel des Buches. Moritz Holl, der sich selbst für unschuldig befand, wurde aufgrund einer DNA-Probe wegen Vergewaltigung und Mordes verurteilt. Dass Moritz Holl als Kind an Leukämie erkrankt ist, eine Knochenmarkspende erhielt und somit eine neue DNA hat – die seines Spenders – kommt erst im späteren Verlauf der Handlung heraus. Diese totale Rationalisierung, durch die ein einziger Beweis ausreicht, um jemanden zu verurteilen, ist einer der Hauptkritikpunkte des Buches. Durch die Fehlbarkeit des DNA-Verfahrens wird auch die Unfehlbarkeit der METHODE in Frage gestellt. Sieht sich die METHODE selbst als unfehlbar, ist der Fall Moritz Holl ein eindeutiger Beweis dafür, dass dies nicht der Fall ist. Moritz wurde zu Unrecht verurteilt und somit macht die METHODE sich zum Straftäter. Juli Zeh prangert diese Rationalisierung an, die sich heute durch biometrische Reisepässe und Nacktscanner anbahnt.
Interpretation
In der Absicht, den Leser auf Missstände in der heutigen Gesellschaft aufmerksam zu machen, übt Juli Zeh in ihrem Roman sowohl Kritik am Staat als auch am einzelnen Bürger. Sie warnt vor der zunehmenden Tendenz, alles kontrollieren und regulieren zu wollen (Internetzensur, Erfassen von biometrischen Daten im Ausweis, Onlinedurchsuchungen, Bespitzelung in Betrieben, Nacktscanner, Rauchverbot), und deutet an, dass die Sorge um Sicherheit und Vorsorge vorgeschoben sein könnte, um die Einschränkung der bürgerlichen Freiheit zu rechtfertigen. Sie macht auf die Gefahr aufmerksam, dass das Sicherheitsbedürfnis des Einzelnen somit bewusst missbraucht werde, um eine möglichst lückenlose Überwachung des Bürgers durchzusetzen. Die METHODE soll aufzeigen, dass unsere Demokratie klammheimlich von „diktatorischen Elementen“ unterminiert werden kann, so dass sich ein Überwachungsstaat entwickelt, der seine Bürger zunehmend entmündigt und in dem Individualität unerwünscht ist. Im Gegensatz zu den meisten Anti-Utopien oder Dystopien entwickelt sich das totalitäre und repressive Potential der METHODE jedoch nicht aus einem offenen Machtwillen, sondern aus der vermeintlich positiven Fürsorge für die Bürger des Staates: „Seine Legitimation gewinnt das System, von Zeh die METHODE (CD, 35) genannt, durch die Setzung der Gesundheit als absolutes staatliches Ziel; die Gesundheit des Körpers und die Verfügungsmacht über ebendiesen obliegt nun dem Staat und nicht mehr den individuellen Vorstellungen seiner Bürger: ‚Gesundheit ist das Ziel des natürlichen Lebenswillens und deshalb natürliches Ziel von Gesellschaft, Recht und Politik. Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon.‘“ (CD, 7 f.) Die „Politisierung des nackten Lebens als solches“, die Giorgio Agamben als „das entscheidende Ereignis der Moderne“ erkennt, wird hier über die gesundheitliche Prävention initiiert; die Einbeziehung des Körpers in die Politik markiert nach Agamben dabei „eine radikale Transformation der klassischen politisch-philosophischen Kategorien“, da der Staat sein Herrschafts- und Zugriffssystem nun bis auf das ‚natürliche Leben‘ ausweite und somit ‚Politik in Biopolitik‘ verwandele. Durch die staatlich definierte normative Setzung von Gesundheit/Krankheit wird in Zehs Text – die sich selbst einen scherzhaften Verweis auf Agamben erlaubt – eine Repressionslogik erschaffen, die die totalitäre und exkludierende Struktur der Herrschaftsfigur der ‚Prävention‘ und die daraus resultierende Überwachung und Gewaltausübung im Namen der Gesundheit legitimiert.
III Printausgaben
Es gibt Printausgaben in gebundener und Taschenbuchausgabe:
- Juli Zeh: Corpus Delicti: Ein Prozess. Schöffling, Frankfurt/Main 2009, ISBN 978-3-89561-434-7 (gebundene Ausgabe)
- Juli Zeh:Corpus Delicti: Ein Prozess. btb, München 2010 ISBN 978-3-442-74066-6 (Taschenbuchausgabe)
IV Adaption
Corpus Delicti - Eine Schallnovelle
Zu Corpus Delicti ist ebenfalls eine Vertonung unter dem Namen Corpus Delicti – Eine Schallnovelle erschienen, eine Zusammenarbeit von Juli Zeh und der Rockband Slut. Slut h at für die Vertonung sieben Stücke komponiert, Juli Zeh hat Teile des Romans daran angepasst und andere Teile neu entworfen bzw. gekürzt.
V Kommentar
Torsten Larbig bezeichnet in der Rezension vom 27.05.2009 auf der Webseite herrlarbig.de Juli Zeh'sCorpus Delicti: Ein Prozess einleitend als einen der politischsten Texte, den er in den letzten Jahren gelesen habe und als einen, der den Leser geradezu zu Assotiationen mit gegenwärtigen Entwicklungen.zwingt. In der Rezension wird auch jene Schlüsselpassage geschildert, mit der sich Mia gegen die METHODE wendet (Zitat)::
„Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. […] Ich entziehe einer Politik das Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risikiofreien Lebens stützt.“ (S. 186f.)
VI Authentische Interpretation und Erweiterung
Im Jahre 2020 ist von Juli Zeh das Buch mit dem Titel Fragen zu Corpus Delicti, Wann wird der Begriff der Gesundheitsdiktatur von der Polemik zur Zustandsbeschreibung ? erschienen. Die Autorin begründet dieses Buch ua damit, dass (Zitat aus der Verlagswebseite):
- derr Roman Corpus Delicti in vielen Bundesländern auf dem Lehrplan für den Deutschunterricht steht, teilweise zum Abiturstoff gehört und sich Zuschriften von Schülern an sie häufen ...
- es dringend nötig ist. jenseits des schnellen Nachrichtengeschäftes in einen Diskurs einzutreten, der uns die Möglichkeiten einer gemeinsamen Zukunft vor Augen führt - nicht als Apokalypse, sondern als Chance
- das Buch zu einem solchen Gespräch einladen will
- das Buch sich an Schüler und Studenten richtet, die ihre Auseinandersetzung mit Corpus Delicti vertiefen wollen, aber natürlich auch an jeden, der sich vom rasanten Epochenwandel unserer Zeit betroffen fühlt.
VII Hinweise zu dieser Webseite
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